Moor
hinein, erinnerst das Sinken nach unten aus einer Zeit ohne Bilder, das Gleiten in ein bewusstloses Dunkel, frei von Angst. Nur die Sprachspuren auf deiner Zunge, die nie den richtigen Klang gefundenhaben, schmecken noch bitter, dann vergisst du dein Stottern, all die Kränkungen, die es dir bis zu diesem Moment eingebracht hat, verlierst die Namen aller je empfundenen und nie ausgesprochenen Gefühle. Ich ordne sie, klebe die Fetzen deiner Sätze, ziehe einen nach dem anderen aus dir heraus und lege sie um deinen Körper, Häute aus Wörtern, vielblättrig und schweigend wie ein Buch.
Der Weg nach draußen kommt ihr verdunkelt vor, der Gehsteig vor der Tür schlammig wie der Heidedamm im Frühling, aufgeweicht nach langem Frost. Es regnet noch immer. An der Ecke holt Röcker sie ein. Ihr Gemälde sei doch gar nicht so übel, hört sie ihn hinter sich keuchen. Sie hat das Klackern der Cowboystiefel schon gehört, bevor ihr ein zweiter Stich ins Rückgrat fährt, den Kerl schon gewittert, ehe sein Rasierwasser ihr in der Nase juckt. Jetzt spürt sie seine Hand zwischen den Schulterblättern, eine Geste, die sie nicht aufhält, nur noch entschiedener weitertreibt, der Rückenschmerz ist die Fortsetzung einer schon immer fehlgegangenen Berührung. Sie läuft weiter, kämpferisch und mit Stechschritt in das letzte Bild. Vor ihren Augen scheint es bereits fertig, in der reinsten Farbe, von radikaler Form. Sie wird es ausführen, Strich für Strich, Schicht um Schicht, noch nie ist sie sich eines Zieles so sicher gewesen wie in diesem Moment.
Wohin so eilig? Röcker prescht vor, fällt wieder zurück, unter ihren Füßen der Boden wie ein Rollband, als würde nun endlich das Leben aufholen, all die vertane Zeit. Nach Hause, sagt sie, zu meinem Kind , fast spuckt sie das Wort aus, den Namen ihres Jungen, Dion, den er, Röcker, ja bereits kenne.
Kein Vater, der aufpasst?
Nein.
Nicht mehr?
Noch nie.
Woher sie Ute kenne? Ob sie Zeit für ein Getränk habe? Hinter ihr wirft der Kerl seine Fragen wie Fanghaken aus. Vorm Wagen bleibt sie so abrupt stehen, dass er mit Wucht gegen sie prallt. Kurz schließt er sie unwillkürlich in die Arme; leider sei ihm ihr Name entfallen. Mira, sagt sie, reißt die Kofferraumklappe auf und schleudert das Bild hinein. Daniel späht nach dem Stapel Leinwände, all den Alibis ihres Lebens. Mira?, grinst er, ist das dein Künstlername?
Sie lacht auf, rebellisch und roh, über dieses Bürschchen, sein Gewitzel, über die Armseligkeit ihrer Lügen und darüber, wie leicht ihr plötzlich, endlich angekommen in der Wirklichkeit hinter den Bildern, die Wahrheit fällt. Tatsächlich ist Mira nicht nur ihr Rufname im Modehaus. Schon im Mädchenheim war es ein Synonym für die bessere Zukunft gewesen, Titel der großen Verlockung eines noch weißen und leeren Bildes, das von ihr mit Farben gefüllt werden wollte, mit Körpern und magischen Zeichen. Mira hatte draußen die Großstadt geheißen, die Samstagnacht, in die hinaus sie fast jedes Wochenende geflohen war, zusammen mit ihrer Banknachbarin Ingrid, und sie verspürt eine fast schmerzhafte Sehnsucht beim Gedanken an ihre frühere und im Leben vielleicht einzige wirkliche Freundin, deren Spitzenwäsche und Miniröcke ihr, Marga, wie auf den Leib geschneidert waren, Kurzes und Knappstes, in dem sie sich durch das Waschküchenfenster zwängten, hinaus in den Garten und die glitzernden Straßen. Schon an der nächsten Ecke begannen sie, leise zu singen und sich in Tanzfiguren zu wiegen, denn die Samstagnacht war voller geheimnisvoller Bewegungen und versprach anders zu werden als alle Samstagnächte der Jahre zuvor, keine endlose Wochenendwüste aus Mädchenspielen wie Gummitwist und Mühle, sondern ein weiter, verwunschener Zauberwald, der zwar richtigen Mädchen die richtigen Spiele bot, dafür aber Scheinnamen erforderlich machte, die ihre wahre Herkunft nicht preisgaben, in den Spelunken, Kabaretts und Tanzlokalen mit verlockenden Namen wie Bikini, Kaiserkeller oder Club Fatal , dessen Türsteher die minderjährigen Mädchen, wenn die Lippen rot und die Absätze ihrer Schuhe hoch genug waren, gegen das obligatorische Fünfzig-Pfennig-Stück über Treppen und durch Korridore in die schwitzende Menge schleusten, wo man nie jung genug sein konnte und niemand so hieß, wie er behauptete, niemand der war, der er vorgab zu sein, und weshalb sie, Marga und Ingrid, samstags ab zehn Mira und Gila hießen, und beide zusammen waren sie die zweieiigen
Weitere Kostenlose Bücher