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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Schlupf, das Licht und die Freiheit des Himmels. In deinem Traum vom Libellenleben hast du die Sprache noch einmal neu erlernt, von den ersten Lauten an, in der Stille des Kolks; nicht die Sprache der Menschen, aber die des Insekts, und im Gegensatz zu den Worten hast du deine verschiedenen Stimmen perfekt beherrscht, deine Sinne waren die schärfsten. Mit den Fühlern konntest du jede kleinste Luftbewegung wahrnehmen und durch die Signalfarben deines Leibes mit der Sonne sprechen, ein endloser Dialog. Du hast geredet und geredet …
    Wahr aber ist, dass niemand aus deiner Klasse von alldem etwas gehört hat – wie auch? Du hast ja noch vor der Tür kehrtgemacht, bist weg von der drohenden Referatblamage und raus zu mir. Der Lebenszyklus der Libelle verhallte ohne ein einziges Wort in der Weite, blieb dein Geheimnis und unser stummer Pakt. Schon immer ist dir der Lärm der Klassenzimmer und Schulkorridore ein Graus gewesen, aber noch nie hattest du Angst vor meiner Stille. Den halben Sommer hast du in der drückenden Julihitze an den Rändern der Schlenken verhockt und mit der Kladde in der Hand alles aufgeschrieben, was du sahst: Wie die Libellen im Flug ihre Eier ins Wasser fallen lassen, sie in schwimmende Blätter stechen oder selbst für Sekunden untertauchen. Manche Weibchen bilden dabei mit den Männchen noch immer das sogenannte Tandem. Andere Männchen halten Wache und beschützen das Weibchen vor Räubern, auch vorRivalen, denn obwohl die Partnerin bereits die befruchteten Eier ablegt, so hätte die entsprechende Stelle in deinem Vortrag gelautet, wird sie noch von anderen männlichen Tieren umbalzt und sogar regelrecht vergewaltigt. Die größte Herausforderung für ein Libellenmännchen besteht darin, das Sperma seines Konkurrenten unschädlich zu machen. Libellenweibchen tragen den Samen mehrerer Männer in den sogenannten Samentaschen am Hinterleib. Mit dem Sperma des stärksten Männchens befruchtet das Weibchen ihre Eier dann selbst, sie hat sozusagen Männer auf Vorrat, und mit einem Grinsen hättest du die verblüfften Gesichter endgültig zum Erröten gebracht und hinzugefügt: Bei den Libellen hat die Frau die Qual der Wahl.
    Während du die Insekten bei der Paarung beobachtest hast, ist dir vieles über dich und Marga klargeworden: In der Sprache der Menschen, so hast du deine Gedanken ins Heft notiert, sind Libellenweibchen so etwas wie Schlampen. Sie treiben es einen Sommer lang wild, aber nur der beste Liebhaber darf der Vater ihrer Kinder sein, ein Auswahlverfahren, das sie im Lauf der Zeit zu den widerstandsfähigsten Insekten werden ließ. In einem deiner Libellenfachbücher fandest du für deine These den wissenschaftlichen Beleg: Libellen, stand dort, stellten genaugenommen das perfekte Insekt dar, indem sie zwei Lebensräume gleichzeitig beherrschen, das Wasser und die Luft. Durch ihre extreme Anpassungsfähigkeit seien sie anderen Insekten überlegen, die manchmal nur auf eine ganz bestimmte Pflanze als Lebensraum angewiesen sind. Zwar gelte ihr Flugapparat als veraltet, weil die Libelle im Gegensatz zu den meisten anderen Insekten ihre Flügel nicht einklappen und an den Hinterleib legen kann. Dennoch habe der Mensch den Hubschrauber nach ihrem Vorbild entwickelt, und in den akrobatischen Schrauben und Pirouetten ihrer Beuteflüge sahst du während deines Lauerns am Ufer der Tümpel für diese Behauptung wiederum den lebendigen Beweis: Wie der Hubschrauber kann die Libelle im Flug an einer Stelle verharren, abrupt die Richtung ändern und rückwärts fliegen. Den Hubschrauber, so hast du es später für das Referat ausformuliert, gibt es erst seit ungefähr vierzig Jahren, die Urform der Libelle schon seit dreihundert Millionen, Fazit: Zuerst war die Libelle auf der Welt, dann kam die Stubenfliege und als Letztes der Hubschrauber, und du hättest diesen Gedanken vor der Klasse, wo mittlerweile keiner mehr gelangweilt Papierkügelchen schießt, noch weiter ausgeführt: Die Natur habe sich von der Libelle über die Stubenfliege zum Hubschrauber wieder langsam zurückentwickelt, also entgegen der allgemeinen Auffassung nicht mit dem Menschen ihr vorerst komplexestes Geschöpf geschaffen. Die Natur, so dein Skript weiter, kennt keinen Plan, sie strebt nicht nach dem Besten und Höchsten, und du hättest ein Beispiel aus dem Konfirmandenunterricht gegeben, wo Pfarrer Deichsen behauptet hatte, Gott habe Adam nach seinem Bild geschaffen und Eva aus dessen Rippe. Wer folglich Deichsen glaubt,

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