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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Rändern, wo man einer Frau, die unter vielen Männern den besten Vater für ihre Kinder wählt, übel nachredet. Dein Vater sei ihr, Marga, eben nicht gut genug gewesen. Sie habe es da ganz mit den Libellen gehalten: ihm den Samen abgeluchst, ihn bei deiner Geburt Wache schieben lassen und dann weggeschickt. Nach der gemeinsamen Eiablage nämlich kehren die Libellenmännchen zur Tagesordnung zurück, in die Haine und Gärten, wo sie auf Beuteflug gehen, und du hättest noch weitere Beispiele für die Besonderheit der Libellenliebe gegeben, die – im Gegensatz zum Paarverhalten anderer Tiere wie der Kraniche oder Graugänse – zwar keine Treue kenne, aber dennoch von großer Hingabe sei: wie ein Libellenmännchen seiner erschöpften Geliebten an Land hilft, wenn sie nach der Eiablage aus dem Wasser auftaucht; bei anderen Arten, der Binsenjungfer, taucht das Paar sogar gemeinsam unter. Was dann passiert, hast du nie beobachten können; die Schlenken sind dunkel und mit dem öligen Film aus Staub und Gräsersamen auf der Oberfläche oft blind, selbst bei Sonnenschein dringt dein Blick kaum eine Handbreit in die Tiefe. Von einem Moment auf den anderen verwandeln sich die Flugakrobaten wieder zu Schwimmtieren. Eben noch zackten sie durch die Luft und präsentierten ihre schönen, schillernden Leiber der Sonne, dann holen sie Luft, und obwohl sie zu zweit sind und dicht beieinander, ja vielleicht einander sogar noch umklammern, fühlen sie sich einen Moment lang hilflos und nackt,der Tiefe des Wassers und ihren Gefahren ausgeliefert: Schlangen, Moorfröschen und den Mäulern gefräßiger Larven, die bereit sind, ihre eigenen Verwandten zu verschlingen, um in der kargen Welt des Torfes zu überleben. Wenn die Libellen als Liebespaar aus dem Himmel ins Wasser stürzen, so lautete der letzte Satz im Kapitel über die Fortpflanzung, sind sie für einen Moment mutterseelenallein.
    Um sicherzugehen, dass dieses Gefühlswort in den wissenschaftlichen Zusammenhang deines Referats passt, hast du es nachgeschlagen. Du wolltest wissen, was das Alleinsein mit der Seele der Mutter zu tun hat. Das Wörterbuch erklärt dazu, dass der Begriff mutterseelenallein von menschenseelenallein abgeleitet ist und das Adjektiv emotional verstärkt. Ein von der Mutterseele verlassenes Wesen, so hast du es gedeutet, ist ein von allen Menschenseelen oder der Seele überhaupt verlassenes, nicht nur einsames, sondern zur Ausgeschlossenheit geradezu verdammtes, ohne Halt und Heimat, sprach-, also seelenlos, voll stummer Wut und doch randvoll mit Worten, die es schreien möchte, so, wie du hättest schreien können, aber nur tief durchgeatmet hast, als du vorhin auf dem Nachhauseweg mit einem Würgen in der Kehle hast erkennen müssen, dass Tanja sich für die Liebe Hannes ausgesucht hatte, den Mann im Dorf, der nicht nur als Erster ihren Weg gekreuzt hat, sondern von allen, die da noch über den Heidedamm kommen könnten, in deinen Augen auch der Beste ist.
    Selbst schuld, Dion. Wärst du nur nicht zurück nach Hause gekommen, sondern draußen bei mir geblieben. Du hättest nichts davon gesehen, und das ganze Dorf würde dich nunsuchen: Sie durchkämmen die Gagelhaine und Faulbaumbrüche, stochern mit ihren Schaufeln im Stich und hetzen ihre Hunde auf eine Fußspur, die ins Wasser führt und nicht mehr heraus. Deine Mutter steht Abend für Abend am Teich und hält Ausschau nach den Männern, die bei Anbruch der Dämmerung aus der Ebene zurückkehren, mit leeren Händen und Schippen, von denen der Dreck tropft. Sie biegen ab Richtung Dorf und zucken nur müde die Schultern, als wollten sie sagen: Morgen ist auch noch ein Tag. Im Dorfkrug aber, wo sie sich später versammeln, beim zweiten oder dritten Bier, sagt einer: Den hat’s erwischt, und der zweite: Wer so weit rausgeht, ist mall. Gorbach, der Deutschlehrer, der auch Teil des Suchtrupps ist, schüttelt über dem vollen Glas den Kopf und seufzt: Wenn ich gewusst hätte, dass der Junge Ernst macht mit dem, was er schreibt. Und was sagen wir der Mutter?, ruft einer von den Tischen. Wir jagen sie auch ins Moor, knurrt Karl Lambert, dann hab ich endlich das Haus wieder.
    Sein Sohn Hannes hat sich indes unbemerkt vom Kickertisch davongeschlichen. Er schlendert die Dorfstraße hinunter, biegt auf den Heidedamm ab und taucht ein in die Dämmerung, wo Marga noch immer am Teich steht, zum letzten Lichtstreif am Horizont blickt und als Schatten in all dem Schwarz, das von den Gräben heraufzieht, kaum mehr

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