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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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hin, hievte sie hoch, der Kopf klappte vor, Marianne hielt das Kinn, strich ihr das Haar aus der Stirn. Ihre Hände auf Margas Herz, am Handgelenk, Sekunden atemloser Stille, dann rief sie: Puls!
    Wo hast du in diesem Moment gestanden? Noch auf dem Flur, im Türrahmen oder schon am Bett? Eine Weile kommt der Junge auf diesen Bildern überhaupt nicht vor, als wärst du in ein Zeitloch gerutscht, durch deine aufgefächerten Blicke hindurch in den eigenen Kopf: dort das Haus, vom Teich aus gesehen hell erleuchtet, zackig der Giebel, rußige Klinker, Lichtsprengsel darüber, fast wie ein Feuer in der mondlosen Nacht, niedergewalzt von schneeschweren Wolken. An den Rändern des Bildes, wo es ausfranst und in das nächste übergeht, beginnt es zu grieseln.
    Mariannes Stimme dringt aus der offenen Haustür, sie ruft, als Schattenriss in der Diele stehend, mehrmals die Adresse in den Telefonhörer. Drei, vier Mal wiederholt sie die Wegbeschreibung zu einem Haus in Fenndorf, das sie schließlich als das letzte Gebäude hinter den Ställen bezeichnet; offiziell gab es am Heidedamm nur die Nummer zwei, den Schweinehof, und dahinter nichts mehr, nur noch Moor.
    Als sie nach oben kam, schien sie ruhiger. Sie blieb im Türrahmen stehen, reglos, fast ehrfürchtig, wie man für einen Moment von einem Gipfel oder Turm aus in eine unverhoffte Aussicht versinkt. Nur ihr Busen schwoll und schwoll; sieschien nur noch ein-, doch nicht mehr auszuatmen. Plötzlich ist auch der Junge wieder im Bild: Er steht vor der Tür zu Margas Schlafzimmer, die er zugezogen hat, weil auf dem Bett die aufgerissene Lexotax-Schachtel liegt. Marianne schiebt ihn zur Seite, stößt die Tür auf, stöhnt: Herrje! Zwischen ihren Fingern knistert ein Blister, der Beipackzettel, lies vor, ich hab die Brille nicht hier, sagt sie und drückt ihm das Papier in die Hand.
    Hier hättest du etwas sagen müssen. Erzählen, dass sie das Zeug seit Jahren schluckt und wie es auch dich schon hat schwanken und kippen lassen. Doch in deiner Kehle kein Wortstau, nicht einmal ein quersitzender Konsonant, nur die Zunge stocherte in der Zahnlücke, als du unter Anwendungsgebiete noch einmal die Gründe gelesen hast, warum Marga mit allem hat Schluss machen wollen, und fast erleichtert gewesen bist, dass dort jetzt nicht dein Name stand, doch auch das eher eine Idee von heute als der tatsächliche Gedanke des Kindes, der hilflose Versuch eines Schlaglichts in einem Tunnel aus Stummheit und Angst.
    Nun sag schon!, rief Marianne und riss dir den Zettel aus der Hand. Sie starrte lange darauf, presste dich dann an ihre Brust und seufzte: Mein armer Junge, ein Satz, der Marga gehörte. Sie eilte ins Zimmer zurück und zerrte deine Mutter auf die Seite. Das Kissen tauschte sie aus, deckte sie zu und ging ins Bad. Du hörtest das Wasser rauschen und im Rauschen noch einmal den Seufzer, dachtest an die Zahnpastaspuren im Becken und dass Marianne bei sich zu Hause so etwas nie geduldet hätte. Sie kam mit dem Putzeimer zurück und begann zu feudeln.
    Wieder ist der Junge hier eine Zeitlang nicht im Bild. Übergroß stattdessen die Libellenuhr an der Wand, die halb acht anzeigt, sieben Uhr achtundzwanzig, um genau zu sein, seit dem Tag in deinem Leben, an dem die Zeiger auf den blasenartigen Facettenaugen stehengeblieben waren. Marga wollte Batterien aus der Stadt mitbringen, war aber seitdem nicht mehr hingefahren. Seit in deinem Zimmer die Zeit stillstand, war alles anders geworden: die Tage kürzer, die Sonne rar, endlos die Nächte, weil sie dich morgens nicht mehr weckte. Du bist mit dem Pausenklingeln ins Klassenzimmer gestürzt. Strafarbeiten, deine erste Fünf im Hausaufsatz, niemand hatte dir das Blatt mit der Aufgabe gegeben, nicht einmal Tanja, die dich im Unterricht herausfordernd musterte, als wüsste sie um dein Versagen.
    Gorbach schrieb wegen der Unpünktlichkeit einen Tadel nach dem anderen, die Marga nicht abzeichnete, auch die Klassenarbeiten nicht, einmal raunzte sie nur: Ich hatte keine Mutter für jeden Scheiß. Dann die Vorladung des Direktors, der sie nicht folgte. Auf allen weiteren Drohpapieren hast du ihre Unterschrift, das M., gefälscht, war ja nicht schwer. In einer Schublade fandest du einen alten Wecker, sein Morgenruf war kalt und schrill. Du hast dich nach ihren Lippen auf deiner Stirn gesehnt, ihrem Flüstern, dem Haar, das dir über die Wangen fiel und dich hochkitzelte in den Tag. Doch da glotzte nur die Libelle mit blutrotem Kopf.
    Weil angeblich auch

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