Moor
alleinstehenden Rentnerin nervt sie, wie auch der Geruch, der oft im Treppenhaus hängt, wenn die Schäfer das Mittagessen auf dem Herd vergisst und sie, Marga, weil der Gestank von Verbranntem schon unter ihrer Tür hindurchkriecht, nach oben stürzt. Sie hat neuerdings den Wohnungsschlüssel, reiner Selbstschutz. Das verkokelte Spiegelei kippt sie in den Müll, spült ab, scheuert den Herd, bereitet ein neues zu, ein perfektes, bei dem die Haut auf dem Eigelb noch glasig ist, und serviert es Frau Schäfer in ihrem Sessel vor dem Apparat. Die Greisin beäugt das Gebratene, tadelt, sie habe bereits genachtmahlt. Sie trägt einen Dutt und zwei unterschiedliche Paar Strümpfe. Es ist drei Uhr nachmittags. Der Fernseher jallert.
Jede Nacht reißt das Geplärre sie aus dem Schlaf, sie muss mindestens zwei Lexotax schlucken, um irgendwann im Morgengrauen doch noch wegzudämmern. Auch das Buch ihres Jungen hat sie zuletzt derart aufgestachelt, dass es nur noch mit den Tabletten auszuhalten war. Die Lektüre und der Lärm aus der Flimmerkiste hatten ihre Nerven blankgelegt und in ihrem Kopf ein Stimmengewirr erzeugt. Überhaupt schien sich ihr Körper wie Löschpapier vollzusaugen mit den Schmierereien, in die er, Dion, sie hineingemengt hatte. Auf die Hirngespinste eines Kindes, denkt sie, das er wohl noch immer ist, sollte man nichts geben, schon gar nicht als Mutter.
Am Morgen hatte sie das Buch aus dem Umschlag gezogen, zusammen mit einem Brief. Es war ein unterkühltes, fast förmliches Schreiben in Computerschrift, Liebe Marga , dann ein paar Zeilen, die ihr mitteilten, dass er, Dion, sich im August auf Sylt aufhalten werde, Anlass: die Verleihung eines Literaturpreises, zu der er sie immerhin herzlich einlud. Keine Frage nach ihrem Befinden, ihrem Leben und ob sie dasüberhaupt will und kann; das Unbehagen, das sie beim Gedanken an ein Wiedersehen augenblicklich verspürte, hatte er mit einem Postskriptum kommentiert: Falls du bereit für einen Neuanfang bist , lautete der angefügte letzte Satz, als hätte sie ihn damals vorsätzlich verlassen, enttäuscht wie eine betrogene Geliebte. Dabei war er es gewesen, der dem Jugendamt dies und das aus ihrem Leben gesteckt und das ein oder andere noch draufgelegt hatte, so dass die Behörden ihr den Jungen per Gerichtsbeschluss wegnahmen und Marianne unterschoben, die Schwägerin also kurzerhand mit allen Rechten und Pflichten einer sogenannten Pflegemutter ausstatteten.
Ihr Kampf war von Anfang an ausweglos gewesen, zu schwer die Geschütze der Psychiater, die ihr, der nach ICD 8 Ziffer 301.1. Persönlichkeitsgestörten, in den Gutachten nicht zutrauten, mit ihrem Jungen wieder ein normales Leben zu führen, freilich verbessert, mit gewissen Disziplinierungen und Verzichten ihrerseits, wie sie den Ärzten zugesichert hatte, die ihren Widerstand so lange mit Medikamenten, Elektrokrampftherapien und tiefenpsychologischen Gesprächen zu brechen versuchten, bis ihr Trotz, an dem verschiedene Anwälte zwei Jahre lang gut verdient hatten, endgültig in Gleichgültigkeit umgeschlagen war, ein Zustand, in dem ein Weiterleben vielleicht nicht besonders erfüllt, aber möglich war, wenn sie die alte Wut, die manchmal jäh wieder aufflammte, durch zwei oder drei Lexotax herabdämpfte, der einzigen Pille, die ihr je Erleichterung verschafft hatte, wie auch heute Morgen, als sie nach dem Klingeln des Postboten das Päckchen aufriss und es in ihrem Innern zu kochen begann.
Sie hatte sich regelrecht krank gefühlt, wie im Fieber. Mit zitternden Händen fummelte sie den Brief ins Kuvert und versuchte sogar, es wieder zu verschließen, als könnte sie die Zweifel, die aufstiegen, zurückverbannen in die Vergangenheit, ins Verdrängte und per Gerichtsstempel ad acta Gelegte. Sie war nicht bereit für ein Wiedersehen, war es zu keinem Zeitpunkt nach ihrer gewaltsamen Trennung gewesen, wie sie nun spürte, als sie den Klappentext des Buches überflog, die Zusammenfassung einer Romanhandlung, die ihr erschreckend bekannt vorkam.
Dion war nach dem Abitur am Gymnasium in Zeeve zum Studium nach München gezogen, möglichst weit weg von Hamburg und seiner Mutter, so hatte sie damals geargwöhnt. Später dann erreichte sie die obligatorische Weihnachtskarte aus Westberlin, von wo aus er sie auch zum Geburtstag anrief, Herzlichen Glückwunsch, Mama, wie geht’s dir / es geht so / kommst du klar / ja, und du? / muss ja, und so weiter, er hatte, erinnert sie sich, dabei noch immer schlimm
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