Moor
dem Film etwas herauszuschneiden. Ihn schlägst du nicht auch noch!, rief Marianne, zog dich von Karl weg und drückte dich an ihren Kittel. Der Sauerteiggeruch, das schwarze, flimmernde Bild, Karls Schnauben darin für mehrere Sekunden, eine Viertelminute vielleicht, in der du daran dachtest, dass du am anderen Tag Ute Hassforther würdest anrufen müssen, um ihr zu sagen, dass Marga länger krank sei, wieder, immer noch krank, eine Vorstellung, die dir die Kehle zuschnürte; war es die Angst vor dem Telefon, die dich so würgte, oder die Tatsache, dass du entweder lügen oder die Wahrheit sagen musstest? Dazwischen schien es nichts mehr zu geben, keine Möglichkeit, etwas ungeschehen zu machen; nur noch das Schwarzbild am Busen der Tante, die dich nun in ihr Haus holen würde, wo du Sülzfleisch kauen und Hannes, Martin, Ole und der brutalen Kerstin, die auch fast ein Junge war, der neue Bruder sein müsstest, der beim Ballwegschießen den Fuß zwischen die Beine kriegt, und je länger Marianne deinen Kopf streichelte, desto unerträglicher wurde dein Verlangen nach Margas Zimtkuchen, du hättest Zimt fressen wollen bisans Ende deiner Tage, wie Marga den Quark, das Butterbrot, den Zeigefinger damit bestäuben, ja, selbst die Pellkartoffeln hättest du in Zimt gewälzt und, wenn euch irgendwann auch noch das Geld für die Kartoffeln ausgegangen wäre, das Zimtfässchen selbst noch genüsslich zwischen den Zähnen zerknackt, alles getan, damit sie wieder die Augen aufschlägt, dir zuzwinkert und sagt: Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?
Doch stattdessen, als Marianne den Jungen endlich entlässt, das Tatütata in der Ferne oder auch keine Sirene, gar kein Geräusch, nur draußen vorm Fenster der Schnee und die roten Männer, die plötzlich im Zimmer stehen. Vielleicht, schreibst du, waren sie schon auf dem Hinweg ohne Martinshorn, nur mit Blaulicht gekommen, aus Rücksicht auf die Träume der schlafenden Kinder.
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Marga schlägt das Buch zu und schiebt es weg, angeekelt wie von einem ungenießbaren Gericht. Tatsächlich ist ihr, als müsste sie alles auswürgen, ihren Ärger über die Lügen, die bittere Kränkung, die ihr wie Galle aufstößt. Wahr ist, dass an jenem Novemberabend, von dem er schreibt, zwar die Sanitäter ins Haus gekommen sind. Aber nicht er, Dion, oder Marianne, die Schwägerin, haben den Rettungswagen gerufen. Ja, gut, sie hatte sich übergeben müssen, zum Glück! So ist sie von den Tabletten nicht bewusstlos geworden, sondern selbst oder, fällt ihr nun wieder ein, von ihm gestützt, die Treppe hinunter zum Telefon gekrochen, doch auch gekrochen scheint ihr eines der herabwürdigenden Romanworte zu sein, mit denen ihr Junge sie hier verunglimpft. Überhaupt, sein ganzes Buch ein bewusster Schlagins Gesicht. Von wegen späte Einsichten und versöhnliche Rückschau!
Sie springt auf und torkelt benommen zum Fenster, als hätten die Wortohrfeigen des Buches sie aus einer jahrzehntelangen Ohnmacht gerissen. In ihrem Negligé fühlt sie sich nackt, ausgezogen und vorgeführt von den unsichtbaren Blicken der Stadt. Er will mich bewusst denunzieren, denkt sie und flüchtet zur Wand, vor eines ihrer Selbstporträts aus ihrer jüngsten Reihe mit dem Arbeitstitel Mira , Akte einer in die Jahre gekommenen, ebenfalls nackten, ihren gealterten Körper zur Schau stellenden Frau, doch auch dort stößt der entlarvende Blick sie zurück. Mag sein, sagt die Alte auf dem Bild und deutet zum Tisch, wo das Buch liegt und schweigt, aber kapiert hast du’s trotzdem nicht.
Stimmt, was Lesen und Schreiben angeht, hat er sie schon immer für doof gehalten. Nicht die Szene, wie sie wirklich war, schwebt ihr nun vor Augen, sondern die Seite im Buch ihres Jungen, die sie jetzt nicht wiederfindet, obwohl sie sich die Stelle gemerkt hat, zwar nicht den Wortlaut, aber das abstrakte Gebilde, das sich auf den ersten Blick aus dem Druck ergeben hatte, so findet sie sich in Büchern am besten zurecht: Von Passagen, die sie noch einmal lesen will oder muss, merkt sie sich die Anordnung der Zeilen und Absätze auf der Seite.
Du glaubst ihm also auch?, zischt sie zu Mira hin, die mit spöttisch verzogenem Mund von der Arbeitswand glotzt. In der Wohnung darüber jallert der Fernseher von Frau Schäfer. Sie schüttelt sich. Jallern , denkt sie, ist nicht mein Wort, auch das muss dem Schreiberhirn ihres Jungen entsprungen sein. Sie hat es in ihrem Leben immer mit den klaren Ansagen gehalten. Der Fernseher der
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