Moor
gestottert, der Junge, oder vielleicht jetzt wieder, wegen all dem, was sie sich hätten sagen wollen und müssen, doch nicht konnten oder durften, weil der Gerichtsbeschluss, ob man ihn nun für angemessen hielt oder nicht, eben Tacheles geredet hatte oder weil jemand im Hintergrund stand und zuhörte, mal ein Kerl bei ihr, dann einer bei ihm, denn Dion, das immerhin hatte er ihr doch noch anvertraut, bevorzugte nun die Männer.
Doch selbst diese schwergängigen Geburtstagstelefonate hatte er in den letzten Jahren eingestellt. Was darin endlich zu klären gewesen wäre, hatte er nun ohne ihr Wissen zwischen zwei Buchdeckel gebracht, und auch den Titel des Romans empfand sie als bewussten Angriff auf ihr Innerstes, ihr vonder Psychiatrie kaltgestelltes Mutterherz: Es war der Name, den sie einst ihrem Ölgemälde gegeben hatte, dem einzigen preisverdächtigen, von der Hamburger Kunststiftung immerhin lobend erwähnten ihres gesamten früheren Werkes, das damals bis auf den letzten Rahmen in der Fenndorfer Scheune verbrannt war, was sie bis zu diesem Moment nie als Verlust, ja sogar als Befreiungsschlag und Möglichkeit zu einem Neuanfang empfunden hatte.
Jetzt aber holte sie von einer Sekunde auf die andere die Vergangenheit wieder ein. Gedankenleer vom Lexotax, hockte sie bis zum Mittag im Sessel und starrte hinaus in den grellen Julitag. Von der Arbeitswand glotzten hämisch die Nackten. Ihr Blick in die Welt war zuletzt nur noch auf den eigenen Körper gerichtet gewesen, dessen Verfall sie nach Fotovorlagen auf großformatige Leinwände erst projiziert, dann den Schattenriss mit dem Pinsel oder der Spraydose in groben Zügen gebannt hatte, besessen von der Vorstellung, das langsame Erkalten und Verkrusten ihres Leibes, wenn es schon nicht aufzuhalten war, zumindest dem sogenannten Kunstmarkt zwar ungeschönt, aber, da war sie sich ihrer Sache dieses Mal ganz sicher, formvollendet wie noch in keiner ihrer bisherigen Arbeiten, vor Augen zu führen. Doch Augen hatte der Kunstmarkt ja noch nie gehabt, Fazit: Keine Galerie, weder in Hamburg noch sonst wo, hatte, wie sie sich kürzlich bei ihrem Friseur beklagte, Lust auf eine alte Fotze.
Einzig Herr Dröhmer machte ihr noch, wie man sagt, schöne Augen. Der ebenfalls in die Jahre gekommene Personalchef warf ihr lange Blicke zu, aus dem Glaskasten seines Büros im Callcenter des Warenhauses, wo sie sich seit einigen Monaten mit einem Headset auf dem Kopf, das ihr die Frisur zerdrückt, im Schichtdienst die Beschwerden der Kundenanhören muss, für neun Euro die Stunde, brutto. Was bei diesem Job an Schreibarbeit anfällt, tippt sie mit zwei Fingern in vorgefertigte Masken auf dem Computer, Buchstabendreher unterlaufen hier selbst den Germanistikstudenten, die sich in der Telefonzentrale ihr Zubrot verdienen.
Um vierzehn Uhr, als ihr Dienst begann, saß sie noch immer zu Hause und blätterte im Buch, ohne einen Satz richtig zu lesen. Dabei hätte ein Anruf bei Dröhmer genügt, ein Hüsteln, die Stimme absichtlich ein wenig gequetscht, und er würde die Schicht kurzerhand umbesetzen; ein langer Gegenblick durch die Glaswand hätte ihn auch diesen Schnitzer, der in ihrem neuen Anstellungsverhältnis nicht der erste war, schnell vergessen lassen, am nächsten Tag, wenn sie sich wieder selbstbewusst genug gefühlt hätte, ihren Platz zwischen all den Studenten und jungen Aushilfskräften einzunehmen.
Doch selbst ein solch lapidarer Anruf schien ihr von einem Moment auf den anderen nicht mehr möglich. Jetzt war sie wahrscheinlich auch diesen Job los. Egal, dachte sie, Freundlichkeit und Geduld sind nicht ihre Stärken. Sie wollte ohnehin kündigen, wegen Julius, der eines Tages plötzlich zwischen Dröhmer und ihr in der Blickachse gesessen hatte.
Der BWL-Student, der sie nach ein paar gemeinsamen Schichten an der Kantinentheke angequatscht hatte und den sie, wegen seiner charmant auf die Serviette gekritzelten Telefonnummer und weil sie sich vorm Einschlafen plötzlich auf die Arbeit freute, schließlich doch angerufen hatte, brachte am verabredeten Abend Blumen, tatsächlich Rosen, die sie schon immer beargwöhnt hatte, und zwei Flaschen Wein. Das Hemd trug er offen, es entblößte eine ausgeprägte Schlüsselbeinmulde. Während sie ein Curry vom Thailänder aßen und in großen Schlucken den Wein dazu tranken, rutschte er immer tiefer in den Sessel und streckte die Beine unter ihren Stuhl. Plötzlich stellte er den Teller weg, stand auf und betrachtete die Bilder an
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