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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Aus dem Wohnzimmer jallerte der Fernseher, lauter denn je.
    Endlich hat sie die Seite im Buch wiedergefunden, die ihr bei der Lektüre so bitter aufgestoßen war, eine dicht beschriebene voller sich bösartig windender Bandwurmsätze, absatzlos, als gönnte Dion ihr unterm Beschuss seiner Erinnerungen kein Atemholen und Innehalten, nirgends eine Zeile, wo sie hätte einhaken und zur Gegenwehr ansetzen können. Wahr ist, dass sie in jener Novembernacht ihren Selbstmordversuch schon im nächsten Moment bereut hatte. Mit dem Rotstift sollte sie hier einfügen, wie sehr ihr Gewissen sie plagte, nachdem sie die Tabletten geschluckt hatte.
    Zugegeben, sie war betrunken gewesen, erschöpft, am Ende; seitdem Ute Hassforther sie abserviert hatte, war es vorbei mit dem Malen, selbst das Starren auf die immer weiße Nesselbahn hatte sie schließlich eingestellt und war nur noch in die Scheune gegangen, um dir, Dion, das Gröbste und Grausamste ihrer Depression zu ersparen. Dort nämlich, in ihrer Werkecke, tat sie nichts, falls sich dieses kleine, ebenso unmaßgebliche wie allmächtige Wort überhaupt noch an einer zum Stillstand gekommenen Handlung festmachen lässt, denn selbst eine Bewegung, die, wenn auch unwillkürlich, noch immer ein Handeln voraussetzt oder bewirkt, war nicht mehr zu erkennen, wie sie dort auf dem alten Sofa lag, dem Schmerz in ihrem Rücken lauschte und ihre Folterer auf sich einwirken ließ – den kleinen, eher harmlosen der sich ihr ins Kreuz bohrenden Metallfedern wie auch dengroßen, unsichtbaren, der ihr von oben herab zusetzte und ihren Körper auf die Drahtspitzen spießte. Bei der Vorstellung, dass es mit ihr nun bald vorbei sein würde, verspürte sie sogar eine Art Lust, die letzte Empfindung, zu der ein halb zu Tode Geschundener noch fähig ist, sein letztes klägliches Aufbäumen kurz vor dem Nichts.
    Wer soll ohne Hoffnung noch leben, dachte sie, drückte eine Träne heraus, die es, so bleiern von diesem Gedanken, kaum über das Augenlid schaffte, griff zu der Weinflasche auf dem Arbeitstisch, die noch vom Vortag dort stand, kippte sie in einem Zug und ging hinüber ins Haus. Dem Nichts war es egal, dass der Kühlschrank seit Tagen leer war, du aber hattest Hunger, warst ihr Kind, wolltest die Mutter.
    In seinem Zimmer, erinnert sie sich, brannte noch Licht. Sie sah ihn im Bett über sein Heft gebeugt, in das er mit eiliger Hand schrieb, im Schein der Lampe. Sie schob ihr Gesicht in den Türspalt, in der Hand den Teller mit dem Rest Eintopf, den sie im Tiefkühlfach gefunden und auf heißer Flamme schnell aufgetaut hatte.
    Tatsächlich hast du innegehalten, doch nicht aufgeblickt, nur in den Flur gehorcht, wo aber nichts anderes war als diese Stille, seit Tagen. Dich dann wieder in deine Aufzeichnungen vertieft und weitergeschrieben, mit einem Gefühl von Bedauern, in das hinein nun eine Art Gewissheit strömte, etwas sehr Klares, fast Erlösendes wie ein kühler Luftzug in einen erstickend schwülen Raum.
    Jetzt liest sie an entsprechender Stelle in deinem Buch, dass sie gar nicht hereinkommen wollte, um dir eine gute Nacht zu wünschen; das, schreibst du, sei nicht ihre Absicht gewesen, noch nie Ziel ihrer Gänge hoch und hin zu dir. Nein, vielmehr habe sie vor der Tür gelauert und darauf gewartet,dass du sie mit einer Umarmung, einem Kuss, dem hingestammelten Alles wieder gut aus ihrem Elend reißt.
    Welches Elend aber?, fragst du dich oder sie oder mich schon in der nächsten Zeile. Sie blättert um, liest mit einem Würgegefühl in der Kehle weiter, kann nicht glauben, was ihr Junge da über sie in die Welt setzt: War sie nicht in Wahrheit von Anfang an diese Gefühllose und Gleichgültige gewesen, nur eine menschliche Hülle, die leere Mutter? Ist der Kleiderbügel der Diakonissen, der ihr die Narben schlug, nichts als ein Symbol? Phantasieobjekt und Krücke eines Sprachkrüppels, der um Worte ringt für etwas, das nicht zu beschreiben, bar jeder Angriffsfläche, eben einfach nur nichts ist? Hat der hier gegen die Mutter erhobene Kleiderbügel ihr die sogenannte Seele, oder was das Liebende eines Menschen ausmacht, gar nicht heraus-, sondern in ihren hohlen Körper erst hineingeprügelt? Sie mit Schmerz belebt, damit sie sich überhaupt regt und bewegt? Er, ihr Junge selbst, muss sie sich im nächsten Absatz anhören, sei in Wahrheit der Schläger, der sie in diesem Buch absichtlich entstellt, im Verlangen nach einer Antwort auf ihre Ferne und Kälte. Nicht ohne Grund sollte sie

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