Moorehawke 01 - Schattenpfade
siehst ja aus wie Beute.«
Lasst uns lachen und fröhlich sein
Und haben sie ihre Arbeit gut gemacht?«
Wynter seufzte. »Ja, Vater. Haben sie.« Sie hob den Blick nicht von dem Blatt in ihren Händen. Sie wusste, dass Lorcan seine Frage nur krächzte, um etwas zu sagen. Selbstverständlich hatten Pascals Lehrlinge ihre Sache gut gemacht. Sogar ausgezeichnet. Daran hatte nie ein Zweifel bestanden, und genau deswegen hatte Lorcan sie ja ausgewählt. Dennoch entging ihr nicht, dass er nicht fragte, wie die Bibliothek nun ihrer Meinung nach aussah.
Sie seufzte erneut, faltete das Papier zusammen und ließ die Hände in den Schoß sinken.
Die Bibliothek sah furchtbar aus, besonders für Wynters geschultes Tischlerauge. All diese glatten Flächen, die grell aus dem wunderschön geschnitzten Holz hervorleuchteten. Wohin der Blick auch fiel – verstörend nackte, kahle Stellen. Sie schüttelte den Kopf und senkte die Lider, um die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Als sie an diesem Morgen in die Bibliothek gekommen war, hatte sie dort zu ihrer großen Überraschung Pascal vorgefunden. Nachdenklich hatte er aus dem Fenster gesehen, als sie eintrat, und sie hatte schon befürchtet, dass seinen Jungen etwas Schreckliches zugestoßen war. Doch der Mann hatte sie nur traurig angelächelt und eine ausholende
Geste gemacht. »Nun gut«, hatte er gesagt. »Es ist vollbracht.«
Fassungslos hatte sich Wynter umgesehen. In den vergangenen Tagen hatte sie gar nicht bemerkt, wie rasch die Arbeit vorangeschritten war, denn sie selbst hatte den Großteil ihrer Zeit damit verbracht, auf einer Fensterbank zu sitzen und ins Leere zu starren, während Pascals Truppe um sie herum emsig wirkte.
Und nun war es erledigt, war diese schamlose Verstümmelung der Arbeit ihres Vaters vollendet.
Mit einer schmerzlichen Grimasse schlug Wynter die Augen wieder auf. Erneut betrachtete sie das Papier in ihren Händen, faltete es auf, überflog die Seite, als könnte ihr Inhalt irgendwie die Erinnerung an diese furchtbare Zerstörung auslöschen.
Lorcan beäugte sie von seinem Kissen aus. In ihren Arbeitskleidern saß Wynter im Schneidersitz am Fußende seines Bettes. Aus der Bibliothek war sie unverzüglich in seine Kammer gekommen, hatte das Werkzeug neben der Tür abgelegt und war wortlos auf das Bett geklettert. Sie hatte die Beine verschränkt, den Kopf angelehnt und die Augen geschlossen. So war sie geblieben – still und verschlossen -, bis Marcello auf seine sanfte, unaufdringliche Art den Raum verlassen hatte. Erst als sie sicher war, dass sie und Lorcan allein waren, hatte sie die Augen wieder aufschlagen und ihren Vater angesehen. Lorcan hatte tief aufgeseufzt und sie angelächelt.
Erneut blickte Wynter von dem Papier vor sich auf, da sich ihr Vater langsam nach unten schob und mit einem Zischen den Kopf auf das Kissen legte. Er hatte heute versucht, so viel Zeit wie möglich außerhalb des Bettes zu verbringen, und das hatte seinen Tribut gefordert. Er schloss die Augen. Ihn hatte
es offenbar nicht im Geringsten überrascht, dass die Arbeit in der Bibliothek abgeschlossen war.
Noch einmal betrachtete Wynter die sorgfältige, eckige Notation, die gewissenhaft gezogenen Notenlinien. Nie zuvor hatte sie darüber nachgedacht, wie schwierig es für Christopher sein musste, einen Federkiel zu halten, doch es war bestimmt äußerst mühselig. Es sollte mich all dessen berauben, was ich bin, hatte er gesagt, eine sehr wirksame Rache .
Es war ein sorgfältig aufgezeichnetes Musikstück, drei sich wiederholende Strophen. Ein Duett für zwei Blockflöten. Die tiefe Stimme bestand aus einer langsamen, getragenen Melodie, die den Takt vorgab und in ihrer Schlichtheit wunderschön war, wuchtig und feierlich. Darüber lag eine perlende Harmonie, beinahe ein Kichern. Es war wie ein heller Fluss, der durch die Tiefen eines mächtigen Waldes floss, Erhabenheit und Freude zugleich. Das Lied hieß »Lorcan«, und Christopher hatte es an diesem Morgen unter Lorcans Teeglas gelegt.
Wynter konnte es nicht länger betrachten, sonst würde sie in Tränen ausbrechen. Ein letztes Mal faltete sie das Blatt zusammen und gab es ihrem Vater. Ohne hinzusehen, streckte er die Hand aus und schob das Papier unter sein Kissen, sein Blick war inzwischen auf den sich rasch verdunkelnden Himmel vor dem Fenster gerichtet.
Sie hatten nur noch morgen, das war alles. Morgen. Tags darauf würde Wynter ihn verlassen müssen. Dabei gab es so viele Dinge, die sie einander
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