Moorehawke 01 - Schattenpfade
ruhenden Decke wieder. Aus dem Hauptgang, der nur neun oder zehn Schritte entfernt lag, drang schwaches Fackellicht herein.
Sie mussten jetzt sehr, sehr tief unter der Erde sein, im geheimsten aller Kerker der Burg. Wynter zögerte, sie hatte Angst. Ihr Atem bildete in der eisigen Luft kleine Wölkchen.
»Dort oben wendest du dich nach rechts und dann die Stufen hinab«, befahl die Katze. »Sag ihm, der Sohn-aber-nicht-Erbe ist, dass die Geister gegen ihn aufbegehren. Sag ihm, er soll sich eilen mit seinem Verhör.«
Irgendwo vor ihnen hallten ferne Schreie. Grausige Schreie,
viel schlimmer als die von Heather Quinn oder die der Katzen aus dem Alptraum – Schreie, die von unerträglichen Qualen zeugten.
Plötzlich geriet Wynter in Panik. Was hatte sie hier zu suchen? Was würde sie mitansehen müssen? Schon wollte sie sich zurück in den Geheimgang drücken, wollte schleunigst in ihre Kammer rennen und diesen Unsinn rasch wieder vergessen. Doch da glitt die Katze von ihrer Schulter, und noch ehe sich Wynter umdrehen konnte, war sie fort. Wie eine verlöschende Kerzenflamme flackerte sie in der Dunkelheit. Es gab keinen Weg zurück, keine Führerin mehr durch den pechschwarzen Irrgarten der Geheimgänge. Wynters einzige Möglichkeit war, vorwärtszugehen und sich dem zu stellen, was dort wartete.
Während sie sich langsam durch den Gang tastete, nahmen die Schreie zu. Hoch, sprudelnd, endlos. Wynter wurde übel, ihre Beine verwandelten sich in Brei. Unvermittelt hatte sie das dringende Bedürfnis, den Abort aufzusuchen.
Als sie um die Ecke bog, sah sie vor sich einige Stufen hinabführen. Sie drückte sich eng an die Wand, krallte sich im Mauerwerk fest. Die Schreie waren hier so deutlich, so erfüllt von menschlichem Leid. Ängstlich keuchte sie auf. Sie wusste, dass sie leise wimmerte, doch sie konnte nicht aufhören.
Die Treppe führte in einen Raum. Über die untersten Stufen ergoss sich schwefeliges Licht, Schatten huschten umher und zuckten die Wände hinauf, zeichneten schwindelerregende Muster auf den Stein. Das Folteropfer, der schreiende Gefangene, musste sich ganz nah am Fuße dieser Treppe befinden.
Wenn Wynter drei oder vielleicht fünf Schritte vorwärtsging, würde sie ihn sehen. Sie würde sehen, was man ihm antat – und wer es tat.
Es roch nach Feuer, Rauch, brennendem Fleisch und Haar.
Wynter konnte die vereinzelten, gurgelnden Worte verstehen, die zwischen den Schreien ausgestoßen wurden. Die Bitten, die Versprechungen, die Gebete.
Wie konnte jemand das mitanhören und dennoch weitermachen? Warum sollte jemand …
Ein tonloses, entgeistertes Flüstern ertönte von der anderen Seite des Gangs: »Was in Gottes Namen machst du hier?«
Als sie herumschnellte, blickte sie in Christophers geweitete, gepeinigte Augen. Er lehnte an der gegenüberliegenden Wand und schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Sein Gesicht war bleich und verzerrt, er roch nach Erbrochenem. »Du solltest nicht hier sein!«, rief er jetzt laut, seine Stimme überschlug sich vor Bestürzung. »Herrgott! Du solltest nicht hier sein!«
Unter ihnen verebbten die Schreie zu einem Stöhnen und Schluchzen, und beide wandten die Köpfe dem Licht zu. Es gab eine kurze, gemurmelte Unterredung. Ein dünnes Rinnsal dumpfen Flehens. Scharfe, ungeduldige Worte. Dann wieder das Bitten, das sich in laute, beschwörende Rufe verwandelte: Gnade, Gnade, o Gott, Gnade … Und wieder setzte das gequälte Heulen ein, diese erstickten, brodelnden Schreie, die Wynter alle Kraft aus den Beinen saugten. Sie fiel auf die Knie.
Da durchschnitt ein Schatten den Lichtschein, seine Konturen waren weich und wirbelnd, als liefe er durch Rauch, und dann eilte eine hohe Gestalt die Stufen hinauf auf sie zu. Es war Razi. Wynter erkannte ihn kaum. Seine Mundwinkel hingen so tief herab, dass sein Gesicht einer Fratze glich. Seine Augen glühten wie Kohlen am Grunde einer Teergrube, und er war über und über mit Ruß und Blut beschmiert und glänzte vor Schweiß. Er sah aus wie ein in Bronze gegossenes
Ungeheuer; ein entsetzlicher, entsetzter Gargoyle, den man gezwungen hatte, einen Blick in die Hölle zu werfen.
Hinter ihm wurden die Schreie immer lauter. Er warf sich auf Christopher, der aufschluchzte, als sich Razi an ihn klammerte und ihn von der Wand wegzerrte. »Also gut«, sagte Razi heiser. »Also gut, du hast gewonnen! Gib es mir. Gib es mir .«
Wynter glaubte nicht, dass Christopher durch seine Tränen hindurch überhaupt hörte,
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