Moorehawke 01 - Schattenpfade
was Razi sagte. Unentwegt starrte er die Stufen hinunter; das Opfer litt entsetzliche Schmerzen, ein hohes, rhythmisches Kreischen zerriss die Luft. »Ich hätte ihn töten sollen!«, stieß er hervor. »Ich hätte ihn töten sollen! Er wird niemals reden! Du hättest mich …«
Razi schüttelte Christopher heftig. Auf seiner Schulter prangte ein Fleck – Blut war durch den Verband und das Hemd gesickert. »Es tut mir LEID!«, brüllte er und zog Christopher zu sich hoch, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Es tut mir LEID! Du hattest RECHT! Jetzt gib mir das verdammte MESSER!«
Abrupt drangen Razis Worte zu Christopher durch, und er tastete hastig nach dem Dolch in seinem Stiefel.
Wynter kniete zu Füßen der beiden auf dem Boden, keiner beachtete sie. Als ihr Blick auf den schwefeligen Fackelschein fiel, bemerkte sie eine Veränderung in der Luft: Das Licht wurde geradezu herausgesaugt , und ein leises Brummen erhob sich unter den Foltergeräuschen.
»Razi …«, sagte sie, den Oberkörper vorgebeugt. Wie ein Wasserstrudel zog das Licht sie in sich hinein, es wollte sie verschlingen. »Razi … die Geister …« Sie legte eine Hand auf die Stufe unter sich, als wollte sie die Treppe hinunterkrabbeln.
Neben ihr drehte sich Razi um, Christophers Dolch in der Hand. Er taumelte ein paar Schritte vorwärts, dann blieb er
stehen. Christopher sank auf die Knie und fiel auf die Hände, das Gesicht dem Licht zuneigt, die Augen leer.
Die Schreie waren verstummt. Statt orangefarben war der helle Schein nun weiß. Die Luft um sie herum summte wie ein Bienenstock.
»Die Geister, Razi …«, begann Wynter erneut. »Die Geister erheben sich.«
Da war es, als berste das Licht.
Wynter spürte ihre Hände über den Steinboden schleifen, als sie rückwärts in den Geheimgang gedrückt wurde. Mit einem sanften Aufprall landete sie an dem Bogendurchgang und rollte herum, schlaff wie eine Stoffpuppe, aber noch bei Bewusstsein.
Licht überspülte sie wie verdünnte Milch.
Etwas Großes rutschte über den Fußboden an ihr vorbei, streifte ihr Bein. Später sollte ihr klarwerden, dass es Razi war, der auf den Rücken geworfen und wie ein Sack Getreide den Gang hinaufgeschoben wurde.
Weißes Licht blühte auf und ergoss sich über Mauern und Decke des Gewölbes. Alle Geräusche waren aus der Luft verdrängt worden, beiseitegeschoben, es gab keinen Platz mehr für Geräusche. Wynter wusste, wenn sie den Mund aufmachte und schrie, wäre nichts zu hören.
Immer weiter dauerte das Licht an, wie ein Komet, der über ihrem Kopf vorbeiflog, strömend, wabernd, wachsend. Wynter starrte es an, unfähig, Hand oder Kopf zu heben, betäubt, reglos wie ein Stein.
Und dann war es vorbei. Stein war Stein, Fleisch war Fleisch, und sie konnte wieder sehen und hören und atmen, als wäre nichts geschehen.
Vorsichtig drehte sie sich auf die Seite. Ihr ganzer Körper kribbelte, ihr Haar knisterte wie ein Lagerfeuer. Ihre Kleider
sprühten Funken, sandten kleine Glühwürmchen aus glei ßendem Licht aus jeder Falte, jedem Kniff. Ihre Zähne taten weh, ihre Lippen summten.
Razi lag mitten im Gang und starrte an die Decke. Nun beugte er langsam das rechte Bein. Hob die linke Hand und ließ sie wieder sinken. Blinzelte.
Gegenüber hörte Wynter Christopher einen zitternden Atemzug ausstoßen.
Einer nach dem anderen standen sie auf und blickten die Treppe hinab. Einen Moment lang verharrten sie einfach nur schweigend nebeneinander. Dann ging Razi voran in den Kerker.
Das Feuer war verloschen, Kohlen und Ruß lagen wie ein dicker, kiesiger Teppich auf dem Boden. Unter ihren Füßen knirschte Asche, zu Stein erkaltet, wo sie noch vor wenigen Augenblicken glühend heiß gewesen war.
Der Gefangene und die Inquisitoren waren nur noch an ihren Gewändern und ihren unterschiedlichen Positionen im Raum voneinander zu unterscheiden. Nicht viel mehr als blutige, zerfetzte Klumpen, kaum noch als menschlich zu erkennen – sie sahen aus, als hätte man ihnen die Haut abgezogen und dann sorgfältig wieder übergestreift.
Wynter konnte nur einen sehr kurzen Blick auf das werfen, was von dem Gefangenen übrig war, dann musste sie den Kopf abwenden. Der entsetzliche Stuhl, die Fesseln, die verdrehten Beine und gebrochenen Arme – all das sah sie nur flüchtig, doch sie konnte es nie wieder abschütteln, es würde sie auf ewig verfolgen. Um den Stuhl herum standen Tische voller grausiger Instrumente, die jetzt von Staub und Asche überzogen waren.
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