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Moorehawke 01 - Schattenpfade

Moorehawke 01 - Schattenpfade

Titel: Moorehawke 01 - Schattenpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kiernan Celine
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Glaubensrichtungen, allen philosophischen Lehrmeinungen, die die Menschheit kannte. Zahllose Werke der Wissenschaft und medizinischen Forschung hatte er vor den Kreuzzügen, Ausschreitungen und Säuberungen gerettet, die sich ihren zerstörerischen Weg durch die Königreiche um ihn herum gebahnt hatten. Und er hatte seine Bibliothek jedem zugänglich gemacht, der willens war, einen anständigen Schreiber mit Abschriften zu beauftragen.

    In diesem gigantischen Raum konnte man sich dem ungeheuren Ausmaß des Vorhabens, der Größe von Jonathons Vision nicht entziehen. Es war das Wunder der Europas – vielleicht sogar der Welt: ein hell strahlendes Licht in der zunehmend schwarzen Ödnis der Unwissenheit, die der Bevölkerung anderer Königreiche aufgezwungen wurde.
    Wynter verharrte im Türrahmen und beobachtete ihren Vater, der in der Mitte des Raums stehen blieb. Behutsam legte er seine Werkzeugrolle auf dem Boden ab und sah sich eingehend um. Wynter hörte ein Knacken in seiner Kehle, dann hoben und senkten sich seine Schultern in einem tiefen Seufzen.
    Nicht die Bücher betrachtete er – obwohl sie an sich schon atemberaubend waren -, sondern die Regale, die Wandtäfelung, die kunstvoll geschnitzten Deckenbalken. Dreizehn Jahre seines Lebens hatte Lorcan diesem Raum gewidmet. Dreizehn lange Jahre hatte er das harte rote Holz, das nun in der Mittagssonne leuchtete, geschnitzt, geschmirgelt und poliert.
    Am anderen Ende des Raums befand sich die Holztafel, an der er gearbeitet hatte, als Jonathon ihn gen Norden sandte. Der Rahmen war bereits in allen Einzelheiten vorgezeichnet, doch weniger als ein Drittel war fertig geschnitzt. Die Tafel zeigte Jonathon, Oliver und Lorcan auf dem Waldpfad. Ihre Hunde strichen ihnen um die Beine, die Bögen hatten sie über die Schultern geschlungen. Razi stand bei ihnen, und Wynter und Alberon winkten ihnen von der Treppe aus. Zu Füßen der beiden Kinder räkelten sich einige der vielen Katzen, die sich damals in Wynters Obhut befunden hatten – jede an ihrer typischen Haltung, ihrer ganz persönlichen Eigenheit unzweifelhaft zu erkennen. Wie alle Schnitzarbeiten hier war das Motiv unverwechselbar Lorcans Werk, warm und anheimelnd,
ohne die steife Förmlichkeit der üblichen Palastkunst. Es schmerzte Wynter, sie zu sehen; sie kündete von vergangenen Zeiten, die für immer verloren waren.
    Die Jahre ihrer Kindheit waren hier dokumentiert, verewigt durch Lorcans außergewöhnliche Begabung im Umgang mit Holz. Oft hatte er die Schnitzereien auf Jonathons ausdrücklichen Wunsch hin angefertigt, häufig auch aus eigenem Antrieb und mit Jonathons Segen, und so fanden sich die Geburten und das Heranwachsen der Palastkinder hier, dargestellt und vollendet von Meisterhand. Es gab auch unzählige von Jonathon gedichtete Verse, die Lorcan in die Wände geschnitzt hatte, damit die Kinder nie vergaßen, wann Razi zum ersten Mal geritten, wann Alberon seinen ersten Fisch gefangen, wann Wynter sich beim Sturz von einem Baum den Arm gebrochen hatte. Ihre gesamten frühen Jahre waren hier versammelt – ein dauerhaftes, unübersehbares Zeugnis der Vergangenheit.
    Auch das tiefe Gefühl von Brüderlichkeit und glücklicher Kameradschaft, das ihn selbst mit Oliver und Jonathon verband, hatte Lorcan in Vollkommenheit eingefangen. Überall gab es Bilder von Alberon und Oliver, ihre Namen in zahllose Gedenktafeln graviert, ihre Insignien in Fantasiewappen gekerbt. Und nun verstand Wynter plötzlich, verstand voll und ganz, warum ihr Vater hier war, begriff das Ausmaß des Opfers, das Jonathon als Gegenleistung für ihre Zukunft verlangt hatte.
    Schroff fragte Lorcan, immer noch mit dem Rücken zu ihr: »Du weißt, was wir zu tun haben?«
    »Ja«, flüsterte sie kaum vernehmlich.
    Ihr Vater räusperte sich und hob seine Werkzeugrolle auf. »Du beginnst mit den Bücherregalen. Ich nehme mir die Wandtäfelung vor.« Damit marschierte er los.

    Wynter rührte sich nicht vom Fleck. Wie gelähmt sah sie zu, wie ihr Vater eine grobe Feile aus seiner Rolle zog. Er stellte sich vor die große Holztafel, hielt kurz inne und betrachtete sie. Dann begann er sorgfältig und mit größter Genauigkeit, Alberon aus dem Bild zu entfernen.
    Beim schabenden Geräusch von Lorcans Feile auf dem Holz löste sich Wynter endlich aus ihrer Starre und trat vor eines der kleineren Regale in der hinteren Ecke. Sorgsam wählte sie ihren Anfangspunkt, bückte sich, entrollte das Werkzeug. Sie suchte eine Feile aus, warf einen

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