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Moorehawke 01 - Schattenpfade

Moorehawke 01 - Schattenpfade

Titel: Moorehawke 01 - Schattenpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kiernan Celine
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letzten Blick auf das Kunstwerk und wandte sich dann ihrer Arbeit zu. Ihr Kopf und ihre Miene waren so leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.

Geheimnisse
    In den folgenden zwei Tagen standen Wynter und Lorcan früh auf und gingen spät zu Bett. Vor Morgengrauen, wenn der Palast noch still war wie ein Grab, liefen sie zur Bibliothek und kehrten erst lange nach Mitternacht zurück, wenn es in den Gängen hallte wie in einer Gruft. Wynter kam es vor, als wären sie die einzigen noch lebenden Menschen. Den ganzen Tag lang arbeiteten sie stetig und ohne sich auszuruhen, einander die Rücken zugekehrt. Jede Nacht fielen sie erschöpft in ihre Betten und schliefen wie Tote. Selbst wenn sie eine Pause machten, um rasch etwas zu essen, sprachen sie kein Wort miteinander. Mit ausdruckslosem Gesicht setzte sich Lorcan dann an eines der großen Fenster, kaute behäbig, leerte seinen Becher und wandte sich umgehend wieder seiner Arbeit zu. Es war, als hätte er sich in einen langen Gang zurückgezogen und sähe seine Tochter nur noch schemenhaft aus der Ferne, durch einen Nebel.
    Niemand kam tagsüber in ihre Nähe, niemand besuchte sie nachts. Selbst Jonathon hatte sich noch nicht blicken lassen. Und obwohl Razi ihnen immer wieder Essen und Getränke aufs Zimmer schicken ließ, blieb er selbst unsichtbar.
    Nach zwei Tagen und Nächten vollkommenen Schweigens fühlte sich Wynters Mund an wie verklebt, und ihre Lippen waren steif, als hätten sie vergessen, wie man Worte
formte. Ihr war, als müsste ihr Kopf bersten, nur durch den Druck der unausgesprochenen Gedanken, die darin eingeschlossen waren und aneinanderprallten wie Käfer in einer Schachtel.
    Ihre Arbeit – sonst immer Trost und Freude – ließ sie nun im Stich. Sobald sie sich in sie vertiefte, sobald ihre Hände den vertrauten, stetigen, gleichförmigen Rhythmus fanden, schlüpfte Wynters Geist aus seiner Fessel und wanderte in Regionen, die er lieber meiden sollte. Ehe sie’s sich versah, schoben sich schreckliche Bilder vor ihr geistiges Auge: Lorcan, der in der Dunkelheit nach Atem rang wie ein verwundetes Tier. Razi, mit fahlem Gesicht und zitternd, ein Rinnsal Blut auf der Brust, das sich auf dem weißen Tuch in ihrer Hand sammelte. Christopher, der ohne einen Laut seine Faust in das Gesicht dieses Mannes hieb, während das Blut spritzte. Aber am häufigsten sah sie den entsetzlichen Stuhl und diese Instrumente vor sich, und Razi, aus Rauch und Flammen tretend, umstrahlt von qualvollen Schreien. Dann rutschte ihr Meißel ab, der Hammer stockte, und Wynter musste die Zähne zusammenbeißen, die Hände zu Fäusten ballen, sich zwingen, stillzuhalten.
    Mit diesen Bildern war sie allein, sie waren ihre ganz eigenen Dämonen, und mehr und mehr bekam sie in ihrer Einsamkeit das Gefühl, sie würden ihr allmählich den Verstand rauben.
    Und dann den ganzen Tag das unablässige Schaben des Meißels auf dem Holz, das endlose Scheuern der Feile. Geräusche, die eigentlich für Schöpfungskraft, Stolz und Genugtuung standen. Doch nun waren es Alberons Gesicht und Olivers Gesicht, Alberons Name und Olivers Name, die sich Stunde um Stunde unter der Klinge zu duftenden roten Spänen und Schnitzeln kräuselten. Die durch die scharfe
Schneide ihres eigenen Werkzeugs verschwanden, Schicht für Schicht.
    Sie sehnte sich nach Razi. Sie sehnte sich nach frischer Luft. Sie sehnte sich danach, weiter zu schauen als auf ihre eigene Nasenspitze.
    Am Morgen des dritten Tages verharrte Wynter einen Moment lang und betrachtete das kleine Gedicht, das Jonathon verfasst hatte, als Alberons geliebter Shubbit starb. Das war ihre nächste Aufgabe: diesen Augenblick der Zärtlichkeit aus der Geschichte auszulöschen, vorzugaukeln, es hätte ihn niemals gegeben. Sie brachte es einfach nicht über sich. Sie legte ihr Werkzeug hin.
    Lorcan hobelte gerade verbissen Alberons Namen aus einer Plakette in der unteren Ecke einer Wandtafel und sah nicht auf, als sie an ihm vorbeilief. Er hielt den Kopf dicht über seine Arbeit gebeugt, Haar und Wimpern waren mit rotem Sägemehl gesprenkelt. Wynter schloss leise die Tür hinter sich. Sie würde ja nicht lange fortbleiben.
    In der frühen Dämmerung stand sie auf der Treppe und sah hinauf in die Baumwipfel. In Händen und Armen spürte sie noch den Takt des Hammers auf dem Meißel nachschwingen; sie schmeckte Sägemehl auf den Lippen, roch den Duft gehobelter Späne in ihren Kleidern. Doch in der Morgenluft lag auch das Aroma von lebendigem Holz –

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