Moorehawke 01 - Schattenpfade
ausgezeichnet.«
Wynter lachte. So rosig und satt hatte sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Er lachte ebenfalls fröhlich, endlich wieder ganz der Alte. Die Sonne verwandelte seine lebhaften Augen in Smaragde. »Ach, mein Mädchen«, sagte er liebevoll. »Du bist wie Medizin.« Und dann grinsten sie einander über den verwüsteten Frühstückstisch hinweg an.
Doch schon nach wenigen Augenblicken straffte Lorcan die Schultern und wurde wieder ernst. »Wynter, Jonathon hat mir meine Konzession angeboten.«
Ihr Herz machte einen Satz. »Das ist ja herrlich!« Sie legte den Kopf schief, wartete auf sein Lächeln. Warum freute er sich nicht? »Mit welchen Einschränkungen?«, setzte sie hinzu. Seiner verhaltenen Reaktion nach mussten es sehr viele Einschränkungen sein.
»Überhaupt keine, mein Liebes. Alle Anstellungen, alle Arbeiten, alle Provinzen, alle Städte.«
»Mein Gott, Vater! Ich … das ist ja … Ha!« Sie lachte und breitete die Arme aus. »Das ist ja unfassbar!« Jonathon hatte ihm soeben den Freibrief ausgestellt, eine Werkstatt zu gründen,
wo immer er wollte, jedes beliebige Personal zu beschäftigen, jeden Auftrag anzunehmen, der ihm behagte. Noch nie hatte sie von einer so uneingeschränkten Handwerkskonzession gehört; Lorcan hätte entzückt sein müssen. Doch in seinem Blick lag sanfte Traurigkeit.
»Sie ist erblich, Wynter. Sie ist auf ewig vererbbar. Du darfst sie weiterführen. Niemand kann uns das jemals wieder wegnehmen.«
Sie ließ die Arme sinken. »Oh, Vater.«
Seine Augen waren riesig und glitzerten im Sonnenlicht.
Wynter legte die Hände auf den Tisch, ihr war plötzlich eiskalt. Sie hatte begriffen. »Er möchte, dass du Albis Enterbung unterstützt. Er will, dass du dich öffentlich für das Mortuus in vita aussprichst?«
Lorcan nickte.
»Das darfst du nicht, Vater. Das darfst du nicht. Bitte sag mir, dass du …«
»Er hat die Konzessionspapiere, Wyn. Er hielt sie mir so nah …« Lorcan hob die Faust und betrachtete sie, als wäre sie etwas Abscheuliches, Ekelerregendes. »So nah hielt er sie mir vor die Nase.«
»Vater.« Sie streckte die Hand aus, und er blickte sie an, als wäre sie drauf und dran, ihm das Herz zu brechen. »Es geht um Albi. Um Alberon .«
»Ich weiß«, flüsterte er. »Aber es geht auch um dich, mein Liebling. Um dich und darum, was geschieht, wenn ich einmal nicht mehr bin.« Den Rest verschwieg er. Ich werde schon bald nicht mehr sein. Dann bist du ganz allein. Das ist alles, was ich dir geben kann.
Das Sonnenlicht, das sich in seinen Augen spiegelte, flackerte, als ein Schatten Lorcans Aufmerksamkeit auf das
Fenster lenkte. Dann verdunkelte ein weiterer Schatten kurz sein Gesicht. Er stand auf, um aus dem Fenster zu sehen.
»Gott steh uns bei!« Überraschung und Verwunderung lagen in seiner Stimme, und als ihm die volle Bedeutung dessen, was er sah, bewusst wurde, sagte er noch einmal: »Gott steh uns bei«, doch dieses Mal leise und hoffnungslos.
Wynter wusste, was er meinte, sie hörte das Trippeln und Rasseln auf den roten Dachziegeln und hatte umsonst gehofft, es würde ihm entgehen. Raben. Raben versammelten sich.
Lorcan trat ans Fensterbrett und lehnte sich weit hinaus, eine Hand am oberen Rahmen abgestützt. Einen Augenblick konnte Wynter nur seine langen Beine sehen, dann hörte sie ihn fluchen, und er huschte zurück, kalkweiß im Gesicht.
»Das Verlies?« Es war keine Frage.
»Das Verlies«, bestätigte er, ohne sie anzusehen. Im Vorbeigehen legte er ihr eine Hand auf den Kopf. »Mach dich zur Arbeit bereit«, sagte er, ging in sein Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Es dauerte ein wenig, bis Wynter hörte, wie er sich anzog.
Raben über dem Verlies. Das konnte nur eines bedeuten.
Jonathon hatte den Leichnam des Gefangenen öffentlich aufspießen lassen. Eine zerstörte, blutige, rachgierige Flagge über dem Palast – die erste ihrer Art, seit Jonathon den Thron bestiegen hatte.
Rasch barg Wynter das Gesicht in den Händen, drückte die Finger gegen die Augen, schob unwillkommene Bilder zurück in dunkle Kammern und verriegelte Türen. Dann stand sie auf und ging, um sich ankleiden. Das Frühstücksgeschirr überließ sie in der sengenden Hitze den Schmeißfliegen.
Sie zog ihre grobe Arbeitskluft an und band die Haare zu einem festen Zopf. Als sie wieder aus ihrem Zimmer trat, die
Werkzeugrolle auf der Schulter, wartete Lorcan bereits im Vorraum. Er trug sein Arbeitsgerät auf dem Rücken, die Sonne
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