Moorehawke 01 - Schattenpfade
sollte.
»Ich möchte dich ja nicht kränken.« Wynter stockte, sie wusste nicht, wie er es aufnehmen würde. »Aber … du siehst gar nicht merronisch aus.«
Zu ihrer Erleichterung lachte er. »Ich bin ein wenig schmächtig, nicht wahr?«
Wynter grinste zurück. Die merronischen Männer waren bekanntermaßen riesige, breite, haarige Geschöpfe. Christopher hingegen konnte man nicht als groß bezeichnen; das einzige Merkmal, das er mit seinen Stammesgenossen gemein hatte, war die unglaublich blasse Haut – etwas, für das die Merroner ebenfalls berühmt waren.
»Von der Abstammung her bin ich überwiegend hadrisch, glaube ich.« Er lächelte, die grauen Augen klar im Sonnenlicht. »Und als ich klein war, lebte und reiste die Truppe lange Jahre in Hadra, daher könnte man es wohl als meine Heimat bezeichnen. Der Meister meiner Truppe war Merroner, er nahm mich auf, als ich noch ein kleiner Knirps war.« Sein Lächeln bekam etwas Wehmütiges, und er hielt inne. Offensichtlich erinnerte er sich mit großer Zuneigung an den Mann. »Er hat mich aufgezogen«, erzählte er leise. »Er war mein Vater … er war es, den ich Vater nannte .« Forschend sah er Wynter an. »Verstehst du, was ich meine?« Sie nickte. »Jeden Sommer nahm er mich mit auf den Merroner- Aonach – den großen Jahrmarkt -, um seine Leute zu treffen. Und schließlich adoptierten sie mich, trotz meiner unbekannten Herkunft! Sie nannten mich Coinín , Hase, weil ich schneller laufen konnte als sie alle zusammen. Diese großen, tapsigen Affen!« Er kicherte leise.
»Dann bist du ein Findelkind?«
»Eine Mutter hatte ich durchaus ein Weilchen, jedoch war sie nicht geneigt, allzu lang zu bleiben. Wobei ich sagen muss, dass ich ein schrecklich wildes Kind war.« Er riss die Augen weit auf, um zu veranschaulichen, wie wild er damals tatsächlich war. »Und immerhin blieb sie fast vier Jahre bei mir. Damit bewies sie doch bewundernswerte Ausdauer, du machst dir ja keine Vorstellung, wie schlimm ich war!« Wieder lächelte er sie an, als wäre das, was er erzählte, erheiternd und nicht unbeschreiblich traurig.
Wie offen er ist, dachte sie . Wie klares Wasser im Vergleich zu den üblichen Höflingen. Wäre er ein Forellenbach, hätten die Fische keine Möglichkeit, sich zu verstecken, und man könnte jeden Kiesel im Flussbett sehen.
Sie räusperte sich. »Razi bittet dich, in der Küche auf ihn
zu warten. Er kommt sicher bald. Er bittet dich, nicht herumzustreifen.«
Ein Hauch von Verärgerung verdunkelte Christophers Miene, und er wandte den Blick ab. »Ich bin kein verdammter Frischling, Razi Königssohn«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Wynter schnaubte. »Razi hält uns alle für Frischlinge. Er glaubt, uns beschützen zu müssen.«
»Und was treibt er, während ich gut auf mich aufpasse? Ich nehme doch mal an, dass er nicht herumstreift ? Er ist doch wohl noch dort, wo ich ihn zurückließ, umgeben von Wachen, unantastbar?« Seine Stimme triefte vor heiterem Spott, und freudig stellte Wynter fest, dass sie endlich jemanden gefunden hatte, der ihren Unmut über Razis Dickköpfigkeit teilte.
»Er hat ein heimliches Stelldichein mit einem Ratsherrn.« Christopher knirschte mit den Zähnen, seine Belustigung verwandelte sich in Zorn. »Mit diesem Rochelle?« Wynter nickte. »Hatte er einen Boten bei sich?« Auch das bestätigte sie. Christopher drehte den Kopf, um ihr Gesicht sehen zu können. »Was wollen die von ihm?«
Sie zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich bin in seine Geheimnisse nicht eingeweiht.«
Darauf wandte er sich wieder ab, seine Kiefer mahlten sichtbar. Einen Moment lang starrte er in die Tiefen des Stalls, dann schüttelte er sich unvermittelt. Er warf die Hände hoch und tat das Thema mit einer Geste ab. »Pah!«, machte er. »Zur Hölle mit der ganzen Bande! Sie sind seinen Speichel nicht wert.« Er stand auf, strich sich das Heu von den Kleidern und grinste Wynter neckend an. »Am besten tun wir aber, was er befiehlt, oder? Sonst schmollt er noch. Aber wärst du so gut, mich zur Küche zu begleiten? Ich finde mich hier immer noch nicht zurecht.«
Wynter erkannte die leicht durchschaubare Lüge, doch das hinderte sie nicht daran, zustimmend den Kopf zu senken und neben ihm ins Sonnenlicht hinauszuspazieren.
»Wie seid ihr euch begegnet, du und Razi?« Es war merkwürdig, eine so unverblümte Frage zu stellen – ein bisschen, als spränge man kopfüber von einer hohen Klippe. Im höfischen Leben wurde um
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