Moorehawke 01 - Schattenpfade
solcherlei Dinge sonst wochenlang herumgeredet, ein Fitzelchen hier ausfindig gemacht, ein Gerücht dort aufgeschnappt. Es widersprach Wynters gesamter Erziehung, so unumwunden zu fragen. Jetzt wappnete sie sich gegen die zu erwartende Lüge, die üblichen glattzüngigen Ausflüchte. Eigenartigerweise hoffte sie, dass sie ausblieben.
»Ich habe auf der Hochzeit seiner Tante gespielt.«
Wynter blieb abrupt stehen. »Du warst … Meinst du etwa Musik? Du bist aufgetreten?«
Verwirrt sah er sie über die Schulter an, dann dämmerte es ihm, und er hob die verstümmelten Hände. »Ach so, du dachtest … Nein! Razi und ich kannten uns schon …« Er zuckte mit den Schultern, suchte nach den geeigneten Worten. »Vorher.« Er lächelte.
Wynter versuchte, ihr Mitleid zu verbergen, doch sie schaffte es nicht. Christophers Lächeln erstarb, sein Blick wurde so hart und unbewegt wie bei ihrer ersten Begegnung – damals, als sie ihn abfällig so einen Akrobaten genannt hatte. Sie schluckte.
Um die Stimmung zu lockern, fragte sie: »Welche … welche von Hadils Schwestern war es denn, die geheiratet hat?«
Einen Moment lang hielt er noch an seinem finsteren Blick fest, dann gab er nach und nahm ihr Friedensangebot an.
»Die große Dicke«, antwortete er mit einem beinahe schon wieder fröhlichen Grinsen. »Was für eine verrückte Hexe! Der arme Bräutigam hatte mein vollstes Mitgefühl!«
Wynter lachte, obwohl sie nicht wusste, von wem Christopher sprach. Keiner von Razis Tanten war sie je begegnet, sie freute sich nur, dass Christopher etwas aufgetaut war.
Er ging weiter, und sie passte sich seinem Schritt an. Die Sonne fuhr auf ihre Köpfe nieder wie ein goldener Hammer.
»Die gesamte Hochzeitszeremonie verbrachte ich in Hadils Haus, über drei Wochen. An den meisten Tagen lief ich hinunter zu den Stallungen, und Razi und ich kamen über die Pferde ins Plaudern.« Schüchtern sah er sie an. »Damit kenne ich mich ziemlich gut aus, weißt du.«
»Du bist ja auch Merroner.«
Grinsend nickte er. »Stimmt.«
Als sie um die Ecke bogen, wimmelte es auf dem Pfad zur Küche plötzlich von Leuten. Lebensmittel wurden angeliefert, Karren und Fuhrwerke rollten heran, Männer und Frauen eilten hin und her.
»Und dann bliebst du einfach dort, als die Festlichkeiten vorüber waren?«, fragte sie weiter.
Das bisher so ungezwungene Gespräch geriet ins Stocken, Christopher wurde unsicher. »Ähm«, machte er. »Als meine Zeit bei Hadil vorbei war, hat Razi …«
Wynters Magen zog sich zusammen. Gleich würde Christopher sie anlügen, das spürte sie. Er würde schlecht lügen, und ganz gewiss wäre es ihm peinlich, aber er würde es dennoch tun. Diese Erkenntnis traf sie unerwartet heftig, eiskalt fuhr sie ihr in die Brust. Warum? Warum ging ihr das so zu Herzen? Täuschung war ein wesentlicher Teil des Lebens, und noch vor wenigen Tagen hatte sie Christophers Mangel an Tücke gescholten.
Nun aber, während er noch hilflos nach den passenden Worten tastete, machte sich in Wynter furchtbare Enttäuschung breit. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie unbeschwert
sie sich bei dem Gespräch mit Christopher gefühlt hatte, wie viel Lachen er in den kurzen Zeitraum vom Stall bis hierher gewoben hatte. Mühsam drängte sie ihre Verbitterung zurück, als er stotternd den Faden wieder aufnahm.
»Razi hat mich überredet zu bleiben. Um mit seinen Pferden zu arbeiten.«
Was verbarg er?
Vielleicht ist er doch ein Dieb. Vielleicht fehlen ihm deshalb die beiden Finger. Er hat Hadil bestohlen. Es sähe Razis Mutter durchaus ähnlich, auf der vollen Strenge des Gesetzes zu bestehen. Und ebenso ähnlich sähe es Razi, ihn aus Barmherzigkeit hinterher bei sich aufzunehmen. Aber warum nicht einfach die Wahrheit sagen? Begriff er denn nicht, dass sie es ohnehin herausfinden würde?
Da überraschte er sie, indem er beide Hände hochhielt. »Das …«, sagte er und räusperte sich erneut, »das geschah etwa zwei Monate später. Räuber. Die Loups-Garous …«
Bei dem Wort stockte Wynter der Atem. »Im Maghreb? So tief im Süden?«
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »O ja«, flüsterte er, und Wynter beschlich der Verdacht, dass seine Händel mit den Loups-Garous weit über diesen brutalen Übergriff hinausgingen.
»Warum?« Sie deutete auf seine Hände. Wieder zögerte er, und wieder wusste sie, dass er lügen würde.
»Ich habe mich wohl ein wenig zu heftig gewehrt«, sagte er ruhig und breitete die Finger seiner linken Hand aus, ohne
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