Moorehawke 01 - Schattenpfade
Weise: nachdenklich, prüfend. Wynter gefiel dieser neue Blick überhaupt nicht. Er war unnahbar und berechnend,
Jonathons ganzer Zorn wich einer kühlen Einschätzung seines immer noch aufgebrachten Sohns.
Abseits neben dem Baum murmelte Christopher etwas auf Merronisch und rollte sich auf die Seite. Der König warf ihm einen raschen Blick zu und gab seinen Soldaten ein Handzeichen. »Bringt ihn fort«, befahl er beiläufig. »Schnallt ihn auf den Stuhl. Sollen die Inquisitoren ihn auspressen.«
Wynter schrie entsetzt auf und versuchte, zu Razi zu gelangen, doch der regte sich nicht. Er wirkte jetzt wachsam und ruhig, und er beobachtete seinen Vater sehr genau. Sein Atem ging rasch und flach.
Zwei Soldaten zerrten Christopher an den Armen hoch, wie ein nasser Sack hing er zwischen ihnen. Erneut murmelte er etwas auf Merronisch: » Is mise … fear saor .« Er wollte den Kopf heben, schaffte es aber nicht; das Gesicht war hinter seinem zerzausten, blutverschmierten Haar nicht zu sehen.
Bedächtig wandte sich Jonathon wieder Razi zu und sah ihm in die Augen. Wynter konnte den hinterhältigen Triumph in der Miene des Königs erkennen, und ihr Herz stockte.
»Also, Junge?«, fragte Jonathon.
»Ich werde den Purpur nicht tragen«, gab Razi sehr leise zurück.
»O doch, das wirst du. Du wirst ohne Widerrede am Tisch sitzen. Du wirst von jedem Gang essen. Und du wirst den Purpur tragen.«
Traurig und verzweifelt schüttelte Razi den Kopf. »Ich werde den Purpur nicht tragen«, flüsterte er. Seine Augen glänzten.
Nun unternahm Christopher eine deutliche Anstrengung, sich zu bewegen. Es gelang ihm, den Kopf einige Augenblicke
lang hochzuhalten, und immer wieder versuchte er, die Füße am Boden aufzusetzen. Fahrig zupfte er an den Armen der Soldaten. »Mädchen?«, lallte er.
Als Wynter bewusst wurde, dass er nach ihr rief, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ich bin hier, Christopher«, rief sie. »Es geht mir gut!«
Schwach hob er den Kopf und schielte benommen durch die Strähnen vor seinem Gesicht. »Raz…« Dann fiel sein Kopf wieder nach vorn, und er stöhnte.
»Bringt ihn fort«, befahl Jonathon und machte eine ungeduldige Geste, ohne den Blick vom Gesicht seines Sohnes abzuwenden.
Die Soldaten hievten Christopher hoch. »Du kommst ins Verlies, Bürschlein!«, raunte ihm einer höhnisch ins Ohr.
Christophers Augenlider klappten hoch, und Wynter sah ihm an, dass er verstand, was das bedeutete.
Der Soldat bemerkte es ebenfalls und grinste. Erneut flüsterte er ihm ins Ohr: »Du kommst auf den Stuhl!«
Da löste sich ein heiserer, angsterfüllter Schrei aus Christophers Kehle, und er begann, kraftlos um sich zu schlagen. Die beiden Hünen, die ihn festhielten, lachten nur und schleppten ihn weg.
»Nein!«, ächzte Wynter. »Razi! Nein!«
Doch Razi starrte unverwandt seinen Vater an, der ein unbarmherziges, siegessicheres Grinsen auf dem Gesicht trug.
»Du wirst von heute an jeden Abend am Bankett teilnehmen«, sagte Jonathon.
Razi ließ den Kopf sinken.
»Du wirst von jedem Gang essen.«
Razi schloss die Augen.
»Du wirst den Purpur des Thronerben anlegen.«
Razi flüsterte: »Ja.«
In der Ferne verhallten Christophers Schreie, und Wynters Schluchzen klang rau in der Stille.
Jonathon rieb sich die Hände. »Gut! Der Hadraer bleibt heute Nacht im Verlies. Wenn du dein Wort hältst, wird er morgen unversehrt freigelassen.«
»Lass ihn wenigstens wissen, dass er nicht auf den Stuhl muss«, bat Razi, die Augen zum König erhoben. »Wenigstens das.«
Aber Jonathon lächelte nur, und Wynter wusste, dass er nichts dergleichen tun würde. Plötzlich tätschelte er Razi mit einer Zärtlichkeit die Schulter, die unter diesen Umständen geradezu abstoßend wirkte. Vor unterdrückter Wut zitterten Razis Lippen, seine Augenlider flatterten.
»Du wirst noch lernen, mein Sohn, dass Freunde ein Luxus sind, den sich kein König erlauben kann. Deine einzige Pflicht, deine einzige Sorge muss das Wohl des Reiches sein. Alles – alles – andere steht an zweiter Stelle. Einschließlich deiner selbst.«
Razi schüttelte die Hand seines Vaters ab und drehte sich um. Darauf wandte sich Jonathon Wynter zu, die immer noch Christopher nachblickte, die Hand auf den Mund gepresst, Tränen auf den Wangen.
»Hohe Protektorin Moorehawke«, sagte er streng. »Zurück an die Arbeit, und wag es nicht, dich noch einmal einzumischen!«
Völlig erstarrt hob Wynter den Kopf und sah den König an. Er wartete
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