Moorehawke 01 - Schattenpfade
Kopfverletzung wie seine gesehen, als ein Reitknecht auf Jonathons Turnierplatz gegen einen Zaun geschleudert worden war; der arme Kerl hatte den Rest seiner Tage unter Krampfanfällen gelitten. Sich Christopher – diesen anmutigen, selbstsicheren Kater – halb besinnungslos und mit Schaum vor dem Mund vorzustellen, war entsetzlich. Mit aller Macht drängte Wynter das Bild zurück.
Nach einer Weile hörte sie das Trampeln eines Wachtrupps auf den Granitstufen und den Steinfliesen des langen Gangs, doch sie rührte sich nicht. Selbst als die donnernden Schritte unmittelbar vor der Tür zur Bibliothek verstummten, stand sie nicht auf. Sie hatte nicht vor, Lorcan zu stören – für niemanden.
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Jonathon schlüpfte herein. Ohne Begleitung. Leise schloss er die Tür hinter sich
und blieb abrupt stehen, als er Lorcan auf dem Boden liegen sah, seine Tochter mit finsterem Blick neben ihm kauernd.
»Erfüllen die Moorehawkes etwa so ihre Pflicht mir gegenüber?«, fragte er, doch seine Stimme war sanft. »Indem sie schlafen?«
»Eure Majestät müssen sich nur einmal in diesem Raum umblicken, um zu sehen, wie sich mein Vater in Eurem Namen abgeplagt hat.«
Jonathons Blick wanderte kurz nach rechts, ohne seiner Umgebung ernstlich Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen trat er näher heran, und Wynter stellte erstaunt fest, dass er ihren Vater mit Zärtlichkeit betrachtete – mit unendlich viel mehr Zärtlichkeit, als er vor weniger als einer Stunde gegenüber seinem eigenen Sohn gezeigt hatte. Sie unterdrückte ihre Überraschung und machte sich die vorübergehende Empfänglichkeit des Königs zunutze.
»Der Hohe Protektor ist krank, Eure Majestät. Ich bitte Euch inständig, Fürst Razi zu gestatten, ihn zu behandeln.«
Jonathons Augen flackerten. Während er ein paar Schritte um seinen Freund herumtrat, um sein halb verdecktes Gesicht besser sehen zu können, sagte er abweisend: »Er ist Eure königliche Hoheit Prinz Razi, Protektorin Moorehawke. Merk dir das. Und er ist kein Arzt, er ist der Thronfolger. Der Palast verfügt bereits über einen Arzt.«
»Aber Razi sagt, er sei ein Quacksalber«, rief Wynter aufbrausend, woraufhin der König sie durchdringend ansah. Also schluckte sie ihre Aufsässigkeit herunter wie bittere Galle. »Bitte, Eure Majestät«, sagte sie nun höflich und leise. »Wollt Ihr nicht bitte Seiner Hoheit erlauben, den Hohen Protektor zu behandeln? Oder wenn schon nicht Prinz Razi – könntet Ihr dann nach dem braven Doktor St. James schicken lassen, der früher hier war?«
»St. James ist tot, mein Kind. Er starb, als er Razi in den Maghreb brachte. Ich werde Doktor Mercury holen, um …«
»Was machst du, Jonathon?«
Lorcans ausgedörrtes Flüstern schreckte sie beide auf.
Besorgt beugte sich Wynter über ihn. »Bist du wach?«
Lorcan drückte ihre Hand, nahm den Arm vom Gesicht und ließ ihn auf die Brust fallen. Dann sah er Jonathon an. Er wirkte erschöpft, seine Lippen bewegten sich kaum, als er wiederholte: »Was machst du?«
Jonathon schwieg, doch Wynter war völlig fassungslos. Das war der Mann, der eben erst seinen Sohn mit einer Ohrfeige zu Boden gestreckt hatte, der versucht hatte, Christopher Garrons Kopf an einem Baumstamm zu zerschmettern, der seinen innigst geliebten Erben aus der Geschichte tilgen ließ. Und dieser Mann musterte nun Lorcan zutiefst liebevoll und bedauernd; ja, es hatte sich gar leises Schuldbewusstsein in seine Haltung geschlichen, als könnte er im Angesicht von Lorcans Leid die höfische Maske nicht länger aufrechterhalten. So hatte Wynter den König noch nie betrachtet – als jemanden, der ebenfalls die Maske tragen musste. Doch als sie ihn nun beobachtete, wurde ihr bewusst, dass von allen Menschen gerade er am meisten zu verbergen hatte.
»Lorcan.« Jonathan ging neben seinem Freund in die Hocke. »Erlaube mir, einem anderen diese Aufgabe zu übertragen. Es ist nicht nötig …«
Lorcans Stimme blieb ein kratziges Flüstern, doch seine grünen Augen sprühten Funken, und seine Hand klammerte sich fest um Wynters, als er sagte: »Glaubst du etwa, ich würde das einen anderen tun lassen, Jonathon? Glaubst du, ich könnte zusehen, wie ein Fremder meine Arbeit vernichtet? Diese Arbeit?«
»Was soll das heißen?«, fiel da Wynter ein und ließ die Hand ihres Vaters fallen. »Hast du das freiwillig übernommen? Bist du …«
Lorcan lächelte müde, doch der König funkelte Wynter an, und es sah aus, als
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