Moorehawke 02 - Geisterpfade
herauszuhalten. Vater hat seine Gesundheit zerstört, damit Jonathon von ihnen unbehelligt blieb. Beide haben so viel geopfert, um diese barbarischen, blutbefleckten …« Die Worte blieben Wynter im Halse stecken. Alles, was sie im Norden gesehen hatte, all diese schrecklichen Dinge kehrten in einem heftigen Schwall aus Klängen und Gerüchen zu ihr zurück, und sie schloss die Augen, um die Erinnerungen fortzudrängen.
Wynter spürte Razis Hand auf ihrer Schulter und krallte die Finger in die Felldecke auf dem Bett, ein schreckliches Gefühl von Verrat brannte in ihrer Brust. Zum ersten Mal, zum allerersten Mal spürte sie echte Wut auf Alberon in sich aufkeimen. »Ich bringe ihn um, Razi«, sagte sie. »Ich bringe ihn um. Alles wäre gut, wenn er nicht wäre. Jonathon wäre niemals in die Tyrannenherrschaft getrieben worden. Du wärest in Sicherheit. Vater …«
Unvermittelt stand Razi auf und lief auf die andere Seite des Zelts hinüber. »Ich packe unsere Sachen«, verkündete er. Damit begann er, ihre Habseligkeiten an dem säuberlich aufgestapelten Sattel- und Zaumzeug zu verstauen.
Gerade wollte Wynter ihm helfen, als sie Schatten bemerkte; jemand umrundete das Zelt und blieb vor dem Eingang stehen.
Im Nu war Razi auf den Beinen, die Hand am Dolch. »Wer ist da?«, fragte er gedämpft.
»Bitte, darf ich hereinkommen?« Ashkrs inzwischen vertraute Stimme löste gleichzeitig Schreck und Erleichterung aus, und Wynter und Razi sahen einander verwundert an. Warum war der Mann auf den Beinen? Kurz zuvor war er noch kaum bei Bewusstsein gewesen.
Stirnrunzelnd schlüpfte Razi aus dem Zelt. Die Klappe fiel hinter ihm wieder zu, und sein langer Schatten dehnte sich schützend über den Eingang. »Was wollt …«, setzte er an, dann hörte Wynter, wie sich seine Stimme von Grund auf veränderte. »Du lieber Himmel«, sagte er bestürzt. »Was macht Ihr denn hier? Ihr gehört ins Bett. Hallvor? Warum habt Ihr ihm erlaubt, in diesem Zustand aufzustehen?«
Ashkr unterbrach ihn mit gepresster Stimme. »Bitte, Tabiyb, ich möchte hereinkommen. Ich habe nicht viel Zeit, bis Sól aufwacht und merkt, dass ich bin nicht mehr da.«
Razi schlug die Klappe zurück, und Hallvor stützte Ashkr. Sobald sie im Zelt waren, nickte der große blonde Mann der Heilerin zu und schob sie sanft hinaus. Sie sah ihn zwar höchst besorgt an, fügte sich aber und hockte sich vor den Zelteingang, um zu warten.
»Ich muss … muss sprechen mit Coinín«, keuchte Ashkr und stolperte auf das Bett zu. Beinahe wäre er kopfüber auf ihren schlafenden Freund gestürzt, erschrocken hasteten Wynter und Razi an seine Seite und halfen ihm, sich hinzusetzen.
»Coinín schläft, Ashkr«, sagte Wynter. »Er hat schon seit drei Nächten nicht mehr richtig geschlafen.«
Ashkr betrachtete Christophers zuckendes Gesicht. »Er nicht schläft richtig jetzt, luch bhocht . O je …« Plötzlich schloss er die Augen, legte sich eine zittrige Hand auf die Stirn und beugte sich nach vorn.
Razi fühlte seinen Arm. »Ihr seid ja eiskalt«, stellte er fest. Rasch warf er Ashkr einen von Emblas Pelzen um die Schultern und zog ihn fest um das Kinn zusammen.
Ashkr schmiegte sich in das Fell, als herrschte tiefster Winter. »Ich bleibe nicht lang«, flüsterte er. »Mir ist noch übel vom Sehen … ich brauche …« Er blinzelte, als müsste er sich erst wieder zurechtfinden. »Coinín.« Er beugte sich tief über Christopher. »Coinín«, rief er noch einmal leise, die Hand über Christophers Schulter schwebend. »Alles ist gut. Es ist vorbei.«
Christopher stöhnte, seine Augäpfel jagten unter den schweißfeuchten Lidern wie wild hin und her, und jäh zuckte sein Körper unter der Decke.
Razi hob die Hand, als wollte er Ashkr zurückhalten. »Seid vorsichtig«, flüsterte er.
Erneut rief Ashkr Christophers Namen, woraufhin der Schlafende langgezogen und tief in der Brust knurrte. Es war
ein furchteinflößender, tierischer Laut. Plötzlich schlug Ashkr seine Hand auf Christophers Schulter und drückte fest zu.
»Wacht auf!« Seine Stimme klang tief und mächtig, und Christopher kam mit einem Schlag zu sich. Sein Atem stockte kurz. »Gut«, beruhigte Ashkr ihn und ließ Christophers Schulter sofort los. »Gut. Kommt jetzt zurück. Ihr seid frei.«
Verständnislos blickte Christopher zunächst ihn an, dann Wynter. »Iseult«, krächzte er. »Ich habe Angst davor.«
»Schschsch«, machte sie. Seine Lippen sahen trocken aus. »Nimm einen Schluck Wasser.«
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