Moorehawke 02 - Geisterpfade
und Razi durchdrang in diesem Moment alles. Doch Ashkr ließ sich davon nicht abhalten, sondern hob sein Handgelenk und tippte auf das geflochtene Armband aus Silber und Kupfer, das er trug. »Ihr wisst, was das bedeutet?«
»Es ist ein Zeichen der Treue«, antwortete sie verkniffen.
»Es bedeutet, dass Ihr Euch mit Leib und Seele Sólmundr versprochen habt.«
Er nickte. »Seit ich weiß, was lieben bedeutet, weiß ich, dass ich Sól liebe, und er hat auch schon immer so für mich empfunden. Lange Zeit habe ich versucht, so zu tun, als hätte ich nicht diese Gefühle – weil ich bin, wer ich bin, was ich bin … Caora Beo . Aber tief in meinem Herzen, Iseult, ist Sól der Einzige, für den ich je gefühlt habe so. Er macht mich glücklich. Ich möchte gern glauben, dass ich ihn auch glücklich mache. Deshalb …« Ashkr verstummte und schloss die Finger um sein Armband.
Plötzlich verdüsterten sich seine Züge, und Wynter ahnte, dass er sich an etwas Furchtbares erinnerte – an etwas, das großen Zorn und Schmerz in ihm hinterlassen hatte. Gegen ihren Willen spürte sie ihre Wut verebben.
»Dann kamen diese Piraten«, fuhr Ashkr kaum hörbar fort. »Und mein Sól, er war fort. Ich war damals achtzehn und verstand mit großer Klarheit, dass ich verloren hatte das einzig Gute in meinem thóin caca Leben. Drei lange Jahre war er fort, und mein Herz, es blutete jeden Tag … und dann war er wieder da! Ich konnte es nicht glauben. Mein Sól! Läuft aus dem Wald! Es war wie ein Traum. Ich sah die Narben auf seinem Körper, ich sah seinen armen Hals und …« Ashkr biss die Zähne zusammen und schluckte seine Gefühle herunter. Dann nahm er Wynters Hände in seine und betrachtete das Wollband, das sie trug. »Das ist es eigentlich, was ich Euch sagen muss. Verzeiht, dass ich so viel rede. Was Ihr wissen müsst …« Plötzlich schien er verunsichert, als wüsste er nicht recht, ob er es wirklich sagen sollte.
Aufmunternd drückte Wynter seine Hände.
Ashkrs Stimme wurde noch leiser. »Sól, er hat viel erlitten,
als er ein Sklave war. Viele Schmerzen. Er … wurde gezwungen, Scham zu fühlen, Iseult. Versteht Ihr?«
Wynter musste schlucken, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie nickte.
»Sól glaubt, wenn er mir erzählt diese Dinge, werde ich immer nur das sehen. Er glaubt, ich werde nicht mehr sehen ihn , sondern nur, was sie ihm angetan haben. Er glaubt, es ist besser, zu behalten das alles in sich. Nichts auszusprechen.« Nun kam Ashkrs Kopf ganz nah, sie sollte unbedingt begreifen. » Die Scham lässt Sól schweigen . Deshalb spricht er nicht mit mir. Und deshalb spricht Coinín nicht mit Euch. Es ist Scham. Sie haben Angst, dass wir uns abwenden, wenn wir kennen die Wahrheit, Iseult. Nur deshalb sie verbergen diese so sehr wichtigen Dinge vor uns. Versteht Ihr?«
Abermals nickte Wynter, und Ashkr sah ihr forschend in die schimmernden Augen.
»Gut«, flüsterte er. »Das ist gut. Und jetzt!« Unvermittelt ließ er Wynters Hände los und drehte sich zu Razi um. »Jetzt, Tabiyb. Kommt und versorgt die Wunden auf Coiníns Rücken. Gebt ihm einen Grund, zu erzählen Euch, was in ihm vorgeht.«
Razi drückte sich weiter mit starrer Miene an die Zeltwand, und Ashkr senkte den Kopf. »Ist schon gut, Tabiyb«, sagte er gütig. »Ihr müsst jetzt stark sein. Ihr seid ein guter Mensch. Geht und seid Coinín ein Freund.«
Einen winzigen Moment lang dachte Wynter, Razi würde ablehnen; doch dann nahm er eilig seine Arzttasche und schlüpfte durch den Zelteingang. Sie wollte ihm folgen, doch Ashkr hielt sie davon ab.
»Ihr seid als Nächstes dran, lucha . Wir lassen uns Zeit, tá go maith ?«
Wynter fügte sich. »Ja, ist gut«, sagte sie.
Christophers Weinen, das durch die Wand von Ashkrs Zelt drang, ließ sie zögern. Es war ein gedämpftes, klagendes Geräusch, begleitet von Razis tiefem Murmeln. Wynter legte eine Hand auf das Leder und horchte.
»Aber ich kann es fühlen !« Christophers Stimme wurde höher. »Ich habe es herausgelassen, Razi. Nach all den Jahren – nach allem, was mir zugestoßen ist – lasse ich es jetzt heraus. Und ich kann es nicht beherrschen! Jedes bisschen Wut, jeder Funken von Begehren, und es steigt in mir hoch! Ich bin schlecht, Razi. Ich bin gefährlich !«
Wynter senkte den Kopf. Sie sah sich zu Ashkr und Sólmundr um, die im Schatten der Bäume saßen und sie beobachteten. Sólmundr bedeutete ihr, ins Zelt zu gehen.
Razi sagte etwas Unverständliches, und
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