Moorehawke 02 - Geisterpfade
Nachtwache ein, mit einem Mal war alle Anspannung wie weggeblasen. Wie üblich fühlte sich Wynter verwirrt von ihren sprunghaften, unberechenbaren Launen. Hallvors gütige Stimme holte sie zurück in die Gegenwart; die Heilerin tätschelte Razis Arm und rief ihn, versuchte, ihn aus dem Traumzustand zu reißen, in den er versunken zu sein schien.
»Ich kann nichts tun«, sagte er da und hob den Blick, um Wynter anzusehen. »Schwester, ich kann nichts … ich habe keinen Schwefel. Ich habe kein … ich habe nicht einmal schimmeliges Gebäck, das ich auf die Eiterung legen könnte.« Dann wandte er sich wieder Sólmundr zu. »Ich habe zu lange gewartet«, sagte er. »Ich habe viel zu lange gewartet. Ich habe ihn vernachlässigt, und nun kann ich nichts mehr tun.«
»Hat noch einer der anderen den Geist gesehen?«
Wynter zog den Umhang fester um sich. »Ich glaube nicht«, flüsterte sie.
»Denk nach«, drängte Christopher. »Denk gut nach. Haben sie Ashkrs Geist gesehen ?«
Unbehaglich rutschte Wynter herum und betrachtete die Merroner, die auf der anderen Seite des Lagers um das Feuer saßen und über Sólmundr wachten. »Ich glaube, dass Sól … ich bin mir sicher, dass Sól ihnen davon erzählt hat«, sagte sie leise.
»Zum Teufel mit ihm«, sagte Christopher.
Ängstlich bedeutete Wynter ihm, still zu sein, doch das war eigentlich nicht nötig. Niemand hörte zu. Sie hätten ebenso gut unsichtbar sein können, wie sie dort nebeneinander auf ihren aufgerollten Decken saßen, schwach beleuchtet von den glühenden Scheiten ihres eigenen Feuers. Selbst Razi, der allein und in Gedanken versunken im Zwielicht am Rande der Lichtung saß, schenkte ihnen keinerlei Beachtung.
»Wie haben sie sich verhalten, als sie es hörten?«, wollte Christopher wissen. »Wirkten sie beunruhigt?«
Wynter musterte die geduldig abwartenden Mienen der Merroner und zuckte die Achseln. »So würde ich es nicht unbedingt sagen. Obwohl sie dem Anschein nach unterschiedlicher Meinung in dieser Angelegenheit waren. Alles in allem schienen sie es sehr gut aufzunehmen.« Sie deutete auf die Krieger. »Seitdem sitzen sie so da.«
Vorher hatten Hallvor und Razi, sobald sich die Merroner wieder beruhigt hatten, Sólmundrs Wunde neu verbunden, ihm das schweißdurchtränkte Hemd ausgezogen und ein sauberes gegeben, und es ihm so bequem wie nur möglich gemacht. Im Anschluss hatte sich Razi von allen zurückgezogen
und saß seither wortlos am Fuße eines Baums, in seinen Umhang gewickelt und Sól unverwandt anstarrend.
Eine Zeit lang hatten sich die Merroner mit stillen Gebeten beschäftigt, dann hatten Úlfnaor und Hallvor eine mit schwelenden Kräutern gefüllte Feuerschale zu Sólmundrs Füßen aufgestellt und sich zu beiden Seiten ihres Freundes niedergelassen. Und nun warteten die Merroner in bedächtigem Schweigen darauf, dass ihr Gefährte starb.
Boro hatte den Kopf in den Schoß seines Herrn gelegt und sah ihn an. Sólmundr hatte Fieber, er schwitzte und fröstelte, seine Augen waren glasig. Wenigstens schien er den Schmerz weit hinter sich gelassen zu haben, und während sich die Rauchschwaden aus der Feuerschale träge um seinen Leib wanden, lag er friedlich in Decken und seinen Umhang gewickelt da und betrachtete durch das durchbrochene Laub der Baumwipfel hindurch die Sterne, die über ihm prangten.
»Ich fürchte, er hat nicht mehr viel Zeit«, sagte Wynter zu Christopher. Es verwunderte sie, dass er noch nicht auf der anderen Lagerseite gewesen war, um Sólmundr die Ehre zu erweisen. In der kurzen Zeit, die die beiden Männer einander nun kannten, waren sie sich sehr nahegekommen, hatte Wynter geglaubt, und Christophers zurückhaltendes Verhalten Sól gegenüber machte ihr Sorgen.
Christopher sah Sólmundr an, dann Úlfnaor, sagte aber nichts.
Unterdessen lief Frangok mit einem Becher zu Sólmundr und kniete sich neben ihn. Hallvor stützte seinen Kopf, um ihm das Trinken zu erleichtern, doch er versuchte es noch nicht einmal. Die Flüssigkeit tropfte von seinen Lippen und rann ihm über den Hals auf das Hemd. Seufzend trocknete Frangok ihm das Gesicht und kehrte mit dem immer noch vollen Teebecher zurück ans Feuer.
»Das ist das erste Mal, dass ich sehe, wie diese Frau Sólmundr irgendeine Beachtung schenkt«, bemerkte Wynter. »Bisher haben sie und diese beiden anderen Kerle den armen Mann überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.«
»Das liegt daran, dass sie abergläubische Holzköpfe sind.« Der Abscheu in
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