Moorehawke 02 - Geisterpfade
Augen. »Was hast du getan?«, fragte sie. »Tabiyb, was hast du getan?«
»Nichts!« Ein Geständnis, ein schändliches Eingeständnis von Schuld.
»Nichts!«, stimmte Embla ihm zu. »Du hast nichts getan.«
Isaac sank auf die Knie und zog Wynter mit sich, so dass sie beide im Schlamm lagen. »Mary«, flüsterte er. »Ora pro me … ora pro me …«
Bitte für mich. Bitte für mich .
Christopher am Feuer begann endlich zu wehklagen.
Wynter holte tief Luft und riss die Augen auf.
Bitte für mich , dachte sie. Bitte für mich! Aber sie konnte sich nicht erinnern, warum sie die Gebete wollte oder warum ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte wie eine Ratte im Käfig.
Das Lagerfeuer brannte noch, und einen Moment lang blieb sie vollkommen regungslos liegen, lauschte dem lauten Zischen der Flammen und beobachtete das über die Baumwipfel am Rande der Lichtung gleitende, zitternde Mondlicht.
Christopher war von ihrem Kissen aus Satteltaschen heruntergerutscht und lag mit dem Gesicht zu ihr, die Schultern hochgezogen, das Kinn an die Brust gedrückt. Er stöhnte im Schlaf, und unter seinen dunklen Wimpern sickerten beständig Tränen hervor. Wynter tastete unter den Umhängen herum, bis sie seine Hand fand, umschloss sie sanft und zog sie dicht an ihr Herz, gleichzeitig unbewusst mit dem Daumen über die Lücke streichelnd, wo einst sein Mittelfinger gewesen war.
Sie schloss die Augen wieder und ließ das Knistern des Feuers in ihren Kopf eindringen. Für eine Weile war das Geräusch besänftigend. Dann jedoch begann es, ihre innere Ruhe zu stören, und sie stellte fest, dass es lauter geworden war, viel zu laut – und es bewegte sich. Wynter schlug die Augen wieder auf, horchte in die Finsternis. Dann hob sie langsam den Kopf, um über Christophers Schulter zu blicken.
Die Merroner schliefen. Úlfnaor und Hallvor lagen schützend zu beiden Seiten Sólmundrs, fast verschwunden unter den dunklen Bündeln aus Umhängen und Decken, Úlfnaors Hunde tief und fest schlummernd zu ihren Füßen.
Nur Boro war wach, den Kopf auf Sólmundrs Knie gelegt. Gebannt beobachtete er etwas, das quer über die Lichtung auf ihn zukam. Wynter konnte ganz deutlich die Bewegung seiner Augen erkennen, als er dem Weg dieses Etwas über den Waldboden folgte. Sein Schwanz klopfte auf die Erde, und er fiepte leise. Wynter suchte die Umgebung ab. Sie konnte nichts sehen, kein gleitendes Licht, keinen Schatten, doch sie spürte sie in der Luft, diese Gänsehaut erzeugende Spannung, die eine Erscheinung ankündigte. Bedächtig stützte sie sich auf die Ellbogen und wartete.
Nun legte Boro das Kinn auf Sólmundrs schlaffe Hand, ohne die unsichtbare Anwesenheit auf ihrem Weg quer über
die Lichtung aus den Augen zu lassen. Abermals winselte der große Hund leise und wedelte zum Gruß schwermütig mit dem Schwanz.
Ganz allmählich wurde die Luft vom Brüllen und Prasseln eines riesigen Feuers erfüllt, und dann hörte Wynter es, leise und kaum vernehmlich: Ashkrs Stimme, die sanft durch den Lärm der Flammen flüsterte.
»Sól … Sól, a chroí …«
Sólmundr regte sich, seufzte und schlug die Augen auf. Einen Moment lang wanderte sein Blick ziellos umher, dann richtete er sich auf einen Punkt sehr dicht bei ihm und lächelte. »Ashkr.« Er hob die Hand, als wollte er die Luft berühren, und plötzlich war Ashkr da, kniete an seiner Seite.
Er war lodernde Helligkeit, weiß schimmernd, flackernd wie eintausend mondbeschienene Flammen, doch vollendet in jeder Einzelheit, bis hin zu den blonden Augenbrauen. Sein schönes Gesicht war voller Zärtlichkeit, die Mundwinkel wölbten sich liebevoll empor, als er Sólmundrs Gesicht betrachtete. » Mo mhuirnín .«
Sólmundr fuhr einen Umriss in der Luft nach, wo das Gesicht seines Geliebten hätte sein sollen. »Ash«, hauchte er. Ashkrs Lächeln vertiefte sich, er nickte, wie um zu sagen: Natürlich . Sólmundrs Finger blieben auf Ashkrs durchsichtiger Wange liegen. » Fan liom «, sagte er. »Táim beagnach in éineacht leat …«
Ashkrs Lächeln erstarb. Er musterte Sólmundr von oben bis unten, als traute er seinen Augen nicht. Nein . Heftig schüttelte er den Kopf. Nein .
Doch Sólmundr nickte zufrieden. » Sea «, bekräftigte er. » Fan liom , Ash. Fan .« Jetzt wurden ihm die Lider schwer und schlossen sich. Ganz langsam sank seine Hand auf seine Brust herab, als verließen ihn die Kräfte.
Ashkr beugte sich über ihn, bebend schwebten seine Finger in der Luft; man konnte sehen,
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