Moorseelen
in der Oase bevorzugt«, schnaubte Aryana. »Kali, Irina oder ich … Er hat uns alle gleich behandelt. War zu jeder von uns nett. Er hat sich um uns
gekümmert
, kapierst du?« Den letzten Satz schrie sie beinahe. Ich nickte nur hypnotisiert. Ich wollte alles hören, ich
musste
es hören. Aryana holte abgehackt Luft und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie fortfuhr: »Zeno war unser Bruder, unser Vater, unser Zuhause. Er hat uns gezeigt, was richtig und was falsch ist. Aber dann kam dieses Miststück und hat es mit ihren blonden Haaren und den blauen Kulleraugen geschafft, sich nicht nur Zeno unter den Nagel zu reißen, sondern auch noch von ihm schwanger zu werden. Und macht dann noch einen Riesenaufstand, dass sie das Kind unbedingt kriegen will, weil Abtreibung Mord ist, bla bla bla …« Aryana holte keuchend Luft, so hastig hatte sie die Sätze hervorgestoßen.
Natürlich, dachte ich benommen. Wie blind war ich nur gewesen. Ich hatte Mias Geschichte von dem One-Night-Stand geglaubt – nein: glauben
wollen
–, damit ich die Wahrheit nicht sehen musste. Aber vom ersten Augenblick an waren mir Jarons Augen aufgefallen. Es war der gleiche Bernsteinblick wie der von Zeno. Er und Mia hatten ein Kind zusammen. Ein Bleigewicht schien an meinem Herzen zu hängen.
Aryana schniefte und fuhr verächtlich fort: »Deva war total begeistert. Natürlich war sie bei der Geburt dabei und hat sich danach sofort um Jaron gekümmert. Mia durfte kaum noch zu ihm. Na ja, und als du in der Oase aufgetaucht bist, war sie dann auch bei Zeno abgemeldet.« Aus ihrer Stimme klang Schadenfreude. Ich schloss die Augen. Sofort trieben aus dem Dunkel das Bild der toten Mia auf mich zu und ihre weiße Hand, seltsam schwebend im Moorsee …
»Aber warum, Aryana? Mia war zum Schluss doch auch nicht besser dran als du«, flüsterte ich.
Aryana starrte mit mattem Blick vor sich hin. »Sie hätte alles kaputtgemacht«, murmelte sie dumpf. »Sie wollte abhauen! Hat gesagt, sie nimmt Jaron mit. Das hätte Deva das Herz gebrochen. Aber weißt du, was das Schlimmste war?«, fragte Aryana und Tränen schossen ihr in die Augen. Ohne meine Antwort abzuwarten, redete sie weiter. »Mia hätte uns verraten – sie hätte
Zeno
verraten, verstehst du? Das konnte ich nicht zulassen. Auch wenn er mich nie so angesehen hat wie Mia – oder dich …«, sie verstummte und jetzt liefen ihr zwei Tränen über die Wangen.
»Aber wieso hätte Mia euch denn verraten sollen?«, fragte ich verwirrt. Wollte sie Deva etwa zur Last legen, dass die sie nicht zu ihrem Kind ließ? Oder war da noch mehr, von dem ich nichts wusste? Wieder dachte ich an die Beruhigungspillen, die Deva verdächtig schnell zur Hand gehabt hatte, als ich wegen Mias Anblick im See beinahe durchgedreht war. Und an das Laptop, das ich entdeckt hatte. »Hatte Mia was gegen die Oase in der Hand?«, rutschte es mir heraus. Aryana wischte sich heftig über die Augen und funkelte mich zornig an.
»Mia hätte niemals abtrünnig werden dürfen!«, zischte sie. »Wir sind eine Gemeinschaft und nur als solche sind wir stark!«, wiederholte sie Zenos Worte, die er uns immer und immer wieder vorgebetet hatte. Aryana nahm es offensichtlich etwas zu wörtlich, denn mit funkelnden Augen fügte sie hinzu: »Jeder, der die Oase verlässt, ist ein Verräter!«
Nick hatte recht gehabt, das wurde mir jetzt klar: Zeno hatte die Kommunenbewohner unter seiner Fuchtel. Indem er in uns allen die Angst vor einer feindlichen, bösen Außenwelt pflanzte, hatten er und Deva alle abhängig gemacht. Von sich und der Oase. Dass ich drauf und dran gewesen war, auf Zeno und seine Mutter hereinzufallen, machte mich wütend. »Das gibt dir noch lange nicht das Recht, Mia einfach schwerverletzt im Wald liegen zu lassen, bis sie stirbt! Was glaubst du, was sie für Angst und Schmerzen ausgestanden hat?«, schleuderte ich Aryana entgegen. Statt einer Antwort erschien wieder dieses unheimliche Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Mia hatte keine Schmerzen. Sie war immer noch bewusstlos, als ich ihren Kopf unter Wasser gehalten habe«, erklärte Aryana sanft.
Ich starrte sie ungefähr drei Sekunden lang fassungslos an. Dann schoss eine bittere Hitze durch meinen Magen nach oben. Ich klammerte mich an den rauen Stamm eines Baumes und übergab mich, bis in meinem Inneren nichts mehr war als schmerzhaft-brennende Leere. In diesem Augenblick wünschte ich, dasselbe Vakuum würde auch in meinem Kopf herrschen. Ich wollte nicht daran
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