Moorseelen
denken, dass Aryana, die mich aufgemuntert, umarmt und getröstet hatte, eine eiskalte Mörderin war. Wie sonst hatte sie es über sich bringen können, Mia zum Ufer zu schleifen und das ohnmächtige Mädchen zu ertränken wie früher die Bauern einen lästigen Wurf junger Katzen? Vor Angst und Ekel wurde mir eiskalt.
Als wären die vorigen Worte nie gesagt worden und wir wären nur Freundinnen auf einer Party, bei der ich etwas zu viel getrunken hatte, strich Aryana mir liebevoll die verschwitzten Haare aus der Stirn. Ich zuckte bei ihrer Berührung zurück, als hätte mich eine Schlange gebissen.
»Weiß Zeno davon?«, brachte ich heraus, nachdem ich mich mühsam aufgerichtet hatte.
Aryana zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht. Aber er würde es gutheißen. Er weiß schließlich, dass ich es für ihn getan habe. Genau wie das mit Nick. Er war auch ein Verräter«, fuhr sie fort. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.
»Nick? Ist er …?«, flüsterte ich erstickt.
Aryana musterte mich spöttisch. »Nein. Aber ich musste mit dem Stein ziemlich fest zuschlagen, um ihn daran zu hindern, mit seinem dämlichen Motorroller wegzufahren! Erst wollte ich Zeno fragen, was wir mit ihm machen sollen, aber du warst ja bei ihm. Und das war ihm wichtiger.«
»Wo ist Nick?«, würgte ich hervor. Sie schüttelte nachsichtig den Kopf.
»Zerbrich dir nicht den Kopf!« Sie kicherte hohl und ein triumphierender Ausdruck trat in ihren Blick. »Urs hat mir geholfen, ihn zu verstecken. Urs würde seit Mias Tod alles für mich tun – weil ich ihn nicht ans Messer geliefert habe«, erklärte Aryana. »Ich habe ihm damals nämlich erzählt, Mia sei bei dem Sturz gestorben und wir müssten sie verschwinden lassen. Weil sonst die Polizei kommen und dann Zeno und die Oase dran sein würden. Urs hatte solche Angst, Zeno zu schaden, dass er sofort zum See zurück ist und sich … um die Sache gekümmert hat. Ich glaube, er wollte Steine in Mias Klamotten stecken, damit sie am Grund des Sees bleibt. Hat wohl nicht funktioniert«, sagte Aryana nüchtern. Dann hob sie den Kopf und sah mich strafend an. »Und ein paar Tage später bist du vom Moorsee gekommen und hast erzählt, du hast Mia dort unten gesehen. Da ist Urs ausgeflippt. Ist schnurstracks zu Zeno gerannt und hat ihm gebeichtet, was er mit ihr gemacht hat.«
Also das war auf dem Video, dachte ich. Und dann haben die zwei zusammen Mias Leiche endgültig verschwinden lassen. Blutsbrüder auf ewig, aneinandergefesselt durch eine Tote.
Ich schluckte ein paarmal trocken, ehe ich herauswürgte: »Du hast Urs in dem Glauben gelassen, er wäre Schuld an Mias Tod?«
Wieder dieses lapidare Schulterzucken. Ich wunderte mich, wie sie nach dem Mord an Mia noch die Fassade des netten, unscheinbaren Mädchens hatte aufrechterhalten können. Auch jetzt lächelte sie mir zu. »Hattest du wenigstens einen schönen Abend mit Zeno?«, fragte sie freundlich und im Plauderton.
Ich musterte sie sprachlos. War Aryana verrückt oder war es ein Spiel, was sie mit mir trieb? So wie die Katze die gefangene Maus immer wieder aus ihren Krallen entlässt, nur um sie erneut zu jagen und zu fangen. So lange bis die Beute zu erschöpft ist, um sich noch zu wehren. Prüfend sah ich ihr ins Gesicht. Ihre Züge wirkten starr, ihre Pupillen stumpf wie erloschene Kerzen. Ihr Lächeln war nur eine Maske, hinter der der Wahnsinn lauerte. »Du brauchst Hilfe, Aryana«, sagte ich leise. »Komm mit mir zur Polizei und ich sorge dafür, dass du glimpflich aus der Sache rauskommst.«
Ihre Lippen verzogen sich, doch es war nicht zu erkennen, ob sie gleich lachen oder weinen würde. »Du hast es immer noch nicht kapiert. Ich gehe nirgendwohin. Genauso wenig wie du«, sagte sie tonlos.
Sie machte eine halbe Drehung und bückte sich. Erst dachte ich, sie müsste sich übergeben wie ich vorhin, dann aber sah ich, wie sie die Hand nach einem armdicken, gesplitterten Ast, den der Wind offenbar von einem Baum gerissen hatte, ausstreckte. Und ich begriff, sie würde tatsächlich mit allen Mitteln verhindern, dass auch ich
abtrünnig
wurde. Eher würde sie noch einen Menschen ausschalten, als ihre Heimat, die Oase, aufzugeben. Lieber nahm sie in Kauf, von Zeno ausgebeutet und als Geldeintreiber benutzt zu werden, nur um nicht noch einmal zu ihrer lieblosen Mutter in die vermüllte Wohnung mit all den leeren Schnapsflaschen zurückkehren zu müssen. Diese Gedanken schossen mir in Sekundenbruchteilen durch den Kopf,
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