Moorseelen
Wir leben zusammen in einer Kommune und versorgen uns selbst. Wir bauen Gemüse an, wir backen das Brot, von dem du gerade gegessen hast, aus Körnern, die auf unseren eigenen Feldern wachsen. Der Erlös kommt uns allen zugute. Wir sind autark und nicht darauf angewiesen, was uns die Lebensmittelkonzerne als gesundes Essen verkaufen wollen. Einige von uns sind versierte Gärtner, andere können toll nähen. Sogar einen Schreiner haben wir unter uns. Wieder andere stellen Schmuck oder Töpferwaren her, die wir verkaufen. Von dem Erlös erstehen wir die wenigen Dinge, die wir nicht selbst machen können.«
Wider Willen war ich beeindruckt. »Und das funktioniert? Ich meine … ihr könnt echt davon leben?«
Zeno lachte: »Klar, können wir davon leben oder sehe ich vielleicht aus wie ein Zombie?«, scherzte er.
Ich musste grinsen. Trotzdem war ich nicht bereit, die rehäugige Bewunderin zu spielen und kritiklos aufzugeben. »Okay, aber was, wenn einer mal keinen Bock hat, zu arbeiten? Toleriert ihr seine ›Freiheit‹, eigene Entscheidungen zu treffen? Immerhin würde er doch damit eine Regel brechen, nämlich die, dass alle arbeiten müssen, damit ihr existieren könnt. Jeder ist doch mal auf dem Egotrip, Muster- WG hin oder her«, führte ich ins Feld.
Zeno sah mich ein paar Sekunden an. Er sagte nichts, sondern lächelte nur – total entspannt. Seine Ruhe verunsicherte mich. Woher nahm er nur diese Selbstsicherheit? Die kleine lästige Stechmücke namens Neid überfiel mich. Ich wäre auch gern so cool gewesen. »Egoismus entsteht doch nur aus einem Gefühl des Mangels«, unterbrach Zeno meine Gedanken. »Du bist egoistisch, weil du das Gefühl hast, keiner geht auf deine Wünsche und Bedürfnisse ein. Du fühlst dich ungeliebt. Wenn die anderen nicht auf dich achten, tust du es eben – indem du dich verweigerst und dich ausklinkst. Dann machst du dein Ding, um die anderen zu bestrafen. Dafür, dass sich scheinbar keiner für dich interessiert.« Seine Worte musste ich erst mal verdauen. Aber sosehr ich auch nachdachte, mir fiel in diesem Moment kein Gegenargument ein. Im Gegenteil, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Weil ich das Gefühl hatte, mein Vater wollte nur nach Lehrbuch erziehen und um mich ging es ihm dabei gar nicht, tat ich in letzter Zeit alles, um ihn auf die Palme zu bringen. Trotzdem wollte ich nicht auf mir sitzen lassen, dass Zeno mich so schnell mit seinen Argumenten schachmatt setzte.
»Und du willst mir wirklich erzählen, so was kommt bei euch nicht vor? Aber dazu müsst ihr doch auch ein paar Regeln haben, oder?«, versuchte ich, ihn in die Enge zu treiben.
»Behandle die anderen so, wie du auch behandelt werden willst«, sagte er gelassen. »Das ist der Leitsatz, nach dem wir leben. Wir sind aufeinander angewiesen und alle wissen das. Jeder wird für seine Fähigkeiten geschätzt und gemocht. Warum sollte also jemand auf die Idee kommen, den anderen eins reinzuwürgen?«
»Okeydokey, du hast gewonnen«, seufzte ich.
Dank seiner Argumente war ich schon in Runde eins verbal k.o. gegangen. Sanft legte Zeno seinen Zeigefinger unter mein Kinn und hob mein Gesicht, bis ich ihm in die Augen sehen musste. »Es geht doch nicht ums Gewinnen, Feline«, sagte er leise und ernst. »Ich wünsche mir nur, dass du verstehst!« Seine Pupillen schienen dunkler geworden zu sein, und ich ertrank in diesem Blick aus flüssiger Milchschokolade. Zeno hielt immer noch zärtlich mein Kinn umfasst, doch nun strich er erneut leicht mit dem Daumen über meine Lippen, diesmal aber war es Absicht. Ich zuckte zusammen, als wäre ich an ein offen liegendes Kabel gekommen. Seine Berührung rief etwas in mir wach, was ich noch bei keinem anderen Jungen empfunden hatte. »Mit dir kann ich über so etwas sprechen. Du bist intelligent – und ich spüre eine ungeheure Energie in dir«, fuhr Zeno fort. »Gleich, nachdem ich dich gesehen habe, wie du da standst mit deinem Goldfischarmband, habe ich es gemerkt. Du strahlst Kraft aus und leuchtest richtig von innen. Ich finde das sehr … anziehend«, fügte er hinzu und lächelte. Ich spürte, wie etwas in mir ganz weich und warm wurde. Mir fiel das Märchen von der Schneekönigin ein, an dessen Ende der Eiszapfen, der das Herz ihres Opfers zu einem harten Klumpen hatte werden lassen, endlich schmilzt. Unwillkürlich verzogen sich meine Mundwinkel zu demselben strahlenden Lächeln, das Zeno mir schenkte. Gerade als ich überlegte, ob er mich jetzt wohl küssen
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