MoR 01 - Die Macht und die Liebe
sie nicht den geringsten Wert.
Also bemühte ich mich herauszufinden, wer Cardixa war. Ich fragte Aurelia, und sie erzählte mir die Geschichte des Mädchens. Als Cardixa vier Jahre alt war, wurde sie zusammen mit ihrer Mutter verkauft, nachdem Gnaeus Domitius Ahenobarbus die Arverner geschlagen hatte und unsere Provinz Gallia Transalpina durchkämmte. Die beiden waren noch nicht lange in Rom, da starb die Mutter, anscheinend am Heimweh. Das Mädchen wurde so etwas wie ein weiblicher Page, sie lief mit Nachttöpfen, Kissen und Schlafröcken durch die Gegend. Sie wurde mehrmals verkauft, als sie nicht mehr den Reiz des Kindes hatte und zu der Riesin heranwuchs, die Aurelia ins Haus brachte. Einer ihrer Besitzer vergewaltigte sie, als sie acht Jahre alt war, ein anderer schlug sie jedesmal, wenn seine Frau jammerte, ein dritter ließ sie zusammen mit seiner Tochter, einer bockigen Schülerin, lesen und schreiben lernen.
»So hattest du Mitleid und wolltest das arme Geschöpf in ein freundliches Haus bringen«, sagte ich zu Aurelia.
Und jetzt kommt es, Gaius Marius, warum ich Aurelia mehr liebe als meine eigene Tochter.
Meine Bemerkung gefiel ihr nämlich überhaupt nicht. Wie eine kleine Schlange zischte sie mich an: »Ganz und gar nicht! Mitleid ist eine gute Eigenschaft, Onkel Publius, das steht in allen Büchern, und unsere Eltern sagen es auch. Aber Mitleid als Grund für die Wahl eines Dienstmädchen, das fände ich schlecht! Daß Cardixas Leben kein Zuckerschlecken war, dafür kann ich nichts, und darum bin ich in keiner Weise moralisch verpflichtet, ihr Unglück wiedergutzumachen. Ich habe Cardixa ausgewählt, weil ich sicher bin, daß sie eine treue, gehorsame und gutmütige Dienerin sein wird, die hart arbeiten kann. Ein schöner Umschlag sagt nichts darüber aus, ob es sich lohnt, ein Buch zu lesen.«
Ach, liebst Du sie nicht auch, Gaius Marius, wenigstens ein bißchen? Damals war sie ganze dreizehn Jahre alt! Und besonders auffallend war, daß sie dabei nicht, wie es durch meinen schlechten Brief vielleicht erscheint, kaltherzig und hochnäsig wirkte oder gar gefühllos. Nein, ich wußte, daß sie weder hochnäsig noch kaltherzig ist. Gesunder Menschenverstand, Gaius Marius! Meine Nichte hat gesunden Menschenverstand. Und wie viele Frauen kennst Du, von denen man das sagen kann? Alle diese Kerle wollen sie wegen ihrem Gesicht, ihrer Figur, ihrem Vermögen heiraten, ich würde sie lieber jemandem geben, der ihren gesunden Menschenverstand zu schätzen weiß. Aber wie soll man entscheiden, welcher der Männer, die um sie werben, der beste ist? Das ist die brennende Frage, die uns alle bewegt.
Gaius Marius ließ den Brief sinken, griff nach seiner Feder und legte sich ein Stück Papier zurecht. Er tauchte die Feder in das Tintenfaß und schrieb ohne Zögern.
Natürlich verstehe ich Dich. Mach es, Publius Rutilius! Gnaeus Mallius Maximus wird alle Hilfe brauchen, die er kriegen kann, und Du wirst ein sehr guter Konsul werden. Was Deine Nichte betrifft, so soll sie sich doch ihren Ehemann selbst aussuchen! Daß sie eine gute Wahl treffen wird, hat sie doch bei ihrem Dienstmädchen bewiesen. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht verstehen kann, was das ganze Theater soll. Lucius Cornelius erzählte mir, daß er Vater eines Sohnes geworden sei, daß aber Gaius Julius, nicht Julilla, ihm dies mitgeteilt habe. Würdest Du mir den Gefallen tun und ein Auge auf die junge Dame haben? Ich glaube nämlich nicht, daß sie wie Deine Nichte so etwas wie gesunden Menschenverstand besitzt. Offen gestanden weiß ich nicht, wen ich sonst darum bitten sollte. Ihren tata kann ich ja wohl kaum fragen. Ich danke Dir, daß Du mich von Gaius Julius’ Gesundheitszustand unterrichtet hast und ich hoffe, Du wirst schon Konsul sein, wenn Du diesen Brief erhältst.
Das sechste Jahr
(105 v. Chr.)
Unter den Konsuln
PUBLIUS RUTILIUS RUFUS und GNAEUS MALLIUS MAXIMUS
J ugurtha war zwar noch kein Verfolgter im eigenen Land, aber die Römer hatten Nordafrica fest im Griff. Die Bewohner in den dichter besiedelten und den östlich gelegenen Teilen des Landes hatten sich mit der römischen Herrschaft abgefunden. Cirta, die Hauptstadt, lag in der Mitte, und Marius entschied, daß es klüger sei, dort zu überwintern anstatt in Utika. Die Einwohner von Cirta hatten nie eine besondere Zuneigung zu ihrem Herrscher gezeigt, doch Marius kannte Jugurtha gut genug, um zu wissen, daß er am gefährlichsten - und am liebenswürdigsten - war, wenn er
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