MoR 01 - Die Macht und die Liebe
habe Dir fast keine Neuigkeiten zu berichten und schon gar keinen hübschen Skandal. Deiner Familie geht es gut, der kleine Marius bereitet allen große Freude. Er will immer seinen Kopf durchsetzen und ist seinen Jahren weit voraus. Dauernd macht er Unsinn und bringt seine Mutter damit zur Verzweiflung - kurz, er ist genau so, wie ein kleiner Junge sein soll. Aber Deinem Schwiegervater, Caesar, geht es gar nicht gut, obwohl ihm natürlich nie ein Laut der Klage über die Lippen käme. Seine Stimme ist nicht in Ordnung, selbst mit Unmengen von Honig wird es nicht besser.
Und das ist eigentlich schon alles! Wie schrecklich. Was soll ich bloß schreiben? Noch habe ich kaum eine Seite gefüllt. Nun, da wäre noch meine Nichte, Aurelia. Wer ist das denn? höre ich Dich fragen. Und es interessiert Dich kein bißchen, schätze ich. Egal. Du mußt zuhören, ich mache es kurz. Du kennst sicherlich die Geschichte der Helena von Troja, obwohl Du ein italischer Bauer bist ohne einen Tropfen griechischen Blutes. Sie war so schön, daß jeder König und jeder Prinz in ganz Griechenland sie heiraten wollte. Genauso ist meine Nichte. So schön, daß jeder Römer von Stande sie heiraten möchte.
Alle Kinder meiner Schwester Rutilia sehen gut aus, aber Aurelia ist mehr als gutaussehend. Als sie noch ein Kind war, jammerten alle über ihr Gesicht - es war zu knochig, zu hart, alles war falsch. Aber jetzt, wo sie achtzehn wird, preist jeder dasselbe Gesicht in höchsten Tönen.
Ich liebe sie wirklich sehr. Ja, warum? höre ich Dich fragen. Tja, in der Tat interessiere ich mich normalerweise nicht für die weiblichen Nachkommen meiner engsten Verwandten, nicht einmal für meine eigene Tochter und meine beiden Enkelinnen. Aber ich weiß, warum ich meine liebste Aurelia schätze. Wegen ihres Dienstmädchens. Als sie dreizehn wurde, beschlossen meine Schwester und ihr Mann, Marcus Aurelius Cotta, daß sie ein eigenes Dienstmädchen brauche, als Gefährtin und als Wachhund. Sie kauften eine sehr gute Sklavin und schenkten sie Aurelia. Nach kurzer Zeit allerdings verkündete Aurelia, daß sie dieses Mädchen nicht haben wolle.
»Warum?« fragte meine Schwester Rutilia.
»Weil sie faul ist«, erwiderte die dreizehnjährige Aurelia.
So gingen die Eltern zu ihrem Händler zurück und wählten mit noch größerer Sorgfalt eine andere Sklavin aus. Aber auch die wollte Aurelia nicht haben.
»Warum?« fragte meine Schwester Rutilia.
»Weil sie glaubt, sie könne mich herumkommandieren«, erwiderte Aurelia.
So gingen die Eltern ein drittes Mal zu dem Händler und studierten die Listen von Spurius Postumius Glycon sorgfältigst. Sie fanden ein drittes Mädchen, wie die anderen war sie, das muß ich hinzufügen, bestens erzogen, Griechin und nach mündlicher Auskunft überaus klug.
Aber Aurelia wollte auch das dritte Mädchen nicht.
»Warum?« fragte meine Schwester Rutilia noch einmal.
»Weil sie zu sehr nach ihrer eigenen Zukunft schielt. Sie klimpert schon mit ihren Wimpern in Richtung Hausverwalter«, sagte Aurelia.
»Also gut, dann geh selber hin und such dir ein Dienstmädchen aus!« entgegnete meine Schwester Rutilia. Sie hatte endgültig genug von der ganzen Sache.
Und Aurelia suchte sich eine Sklavin aus. Als sie mit ihr nach Hause kam, war die ganze Familie entsetzt. Da stand nämlich ein sechzehnjähriges Mädchen, vom gallischen Stamm der Arverner, ein riesig großes, dünnes Geschöpf mit einem gräßlich runden, roten Gesicht, einer platten Nase, blaßblauen Augen, scheußlich geschnittenem Haar - ihr Haar war an einen Perückenmacher verkauft worden, weil ihr früherer Herr Geld brauchte - und den größten Händen und Füßen, die ich je bei Männern und Frauen gesehen habe. Ihr Name sei Cardixa, verkündete Aurelia.
Du weißt ja, daß es mich immer sehr interessiert, aus was für Familien die kommen, die wir uns als Sklaven ins Haus holen. Denn, so schien es mir immer, wir beschäftigen uns gründlicher damit, die Speisenfolge für eine Abendgesellschaft auszuwählen, als mit den Menschen, denen wir unsere Kleider, uns selbst, unsere Kinder und sogar unseren guten Ruf anvertrauen. Wohingegen meine dreizehnjährige Nichte Aurelia ihre Wahl, das erkannte ich sofort, für diese gräßliche Cardixa aus genau den richtigen Gründen getroffen hatte. Sie wollte jemanden, der treu war, hart arbeiten konnte, gutmütig und gehorsam ihren Worten folgte. Auf gutes Aussehen, griechische Muttersprache und behende Konversation legte
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