MoR 01 - Die Macht und die Liebe
fand Drusus’ Schwester in der Loggia, die an die Vorderfront des Atriums anschloß. Livia Drusa war immer allein und immer einsam. Das Haus war so groß, daß sie nie das Bedürfnis nach einem Spaziergang geltend machen konnte, und wenn sie etwas kaufen wollte, rief ihr Bruder einfach die Händler ins Haus, und sie breiteten ganze Läden und Stände in den großen Räumen entlang des Säulengangs aus. Der Verwalter bekam Anweisung, alles zu bezahlen, was Livia Drusa haben wollte. Die beiden Schwestern aus dem Hause der Julier hatten unter den aufmerksamen Augen ihrer Mutter oder vertrauenswürdiger Sklaven oft die besseren Viertel von Rom besucht, Aurelia war ständig bei Verwandten oder Schulfreundinnen zu finden gewesen, und Frauen wie Clitumna und Nikopolis mußten nicht einmal regelmäßig zu den Mahlzeiten erscheinen. Doch Livia Drusa lebte in völliger Abgeschiedenheit, eine Gefangene des Reichtums und ein Opfer der Freiheit ihrer Mutter.
Livia Drusa war zehn Jahre alt gewesen, als ihre Mutter, eine Cornelia aus dem Hause Scipio, die Familie verlassen hatte. Von da an hatte sie in der alleinigen Obhut ihres Vaters gelebt, der kaum Notiz von ihr genommen, sondern seine Zeit hauptsächlich damit verbracht hatte, durch seine Säulengänge zu wandeln und seine Kunstwerke zu betrachten. Die Dienerinnen und Lehrer hatten große Angst vor der Macht der Familie gehabt und nicht gewagt, sich mit Livia anzufreunden. Drei Jahre, nachdem ihre Mutter mit ihrem kleinen Bruder - Mamercus Aemilius Lepidus Livianus, wie er jetzt genannt wurde - fortgegangen war, war sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder in dieses riesige Mausoleum gezogen. Allein und ziellos wanderte sie seither durch das Anwesen, verloren, ungeliebt, unbeachtet. Der Tod ihres Vaters, fast unmittelbar nach dem Umzug, hatte ihr Leben kaum verändert.
Lachen war ihr unbekannt. Wenn von Zeit zu Zeit Gelächter aus den überfüllten, fensterlosen Dienstbotenräumen zu ihr heraufdrang, fragte sie sich verwundert, was das war. Sie kannte nur eine Welt, die sie liebte, und das war die Welt der Schriftrollen. Da ihr niemand das Lesen oder Schreiben verbot, füllte sie den größten Teil ihrer Zeit damit aus. Sie ließ sich von den Beschreibungen der Wut des Achilles hinreißen, von den Taten der Griechen und Trojaner, von den Geschichten über Helden und Ungeheuer, über Götter und sterbliche Mädchen, nach denen es die Götter mehr zu verlangen schien als nach anderen Unsterblichen. Nachdem das Entsetzen über die schrecklichen Veränderungen ihres Körpers während der Pubertät abgeklungen war - niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie aufzuklären -, entdeckte sie mit ihrer leidenschaftlichen Natur die Faszination der Liebesdichtung. Des Griechischen so mächtig wie des Lateinischen, begeisterte sie sich für Alkman, Pindar, Sappho und Asklepiades. Der alte Sosilis von Argiletum schickte von Zeit zu Zeit willkürlich zusammengestellte Körbe mit Schriftrollen zu Drusus’ Haus. Er nahm selbstverständlich an, daß sie für Drusus bestimmt wären, und hatte keine Ahnung, wer sie in Wirklichkeit las. Kurz nach Livia Drusas siebzehntem Geburtstag hatte Sosilis begonnen, die Werke eines neuen Poeten namens Meleagros zu senden, der über die Liebe und über die Wollust dichtete. Mehr gefesselt als abgestoßen, ließ sich Livia in die Welt der erotischen Literatur einführen, und dank Meleagros erwachten ihre eigenen sexuellen Gefühle.
Doch es änderte sich nichts. Sie durfte nicht ausgehen, niemanden treffen. Annäherungsversuche an einen Sklaven oder Annäherungsversuche eines Sklaven an die Herrin waren in diesem Haus unvorstellbar. Manchmal sah sie die Freunde von Livius Drusus, doch diese Begegnungen waren sehr flüchtig. Nur einen kannte sie näher - Livius’ besten Freund, den jungen Caepio. Mit seinen kurzen Beinen, den vielen Pickeln und dem häßlichen Gesicht erschien er ihr wie ein Tölpel aus einem von Meleagros’ Stücken oder wie der widerliche Thersites, den Achilles mit einem Schwertstreich köpfte, nachdem Thersites den Helden angeklagt hatte, sich an der Leiche der Amazonenkönigin Penthesileia vergangen zu haben. Nicht, daß Caepio ihr jemals Anlaß zu solchen Vergleichen gegeben hätte - ihre ausgehungerte Phantasie hatte einfach sein Gesicht auf diese Figuren übertragen.
Ihr Lieblingsheld war Odysseus. Sie liebte die überlegene Art, wie er die Probleme anderer löste. Sein Werben um Penelope, deren geistiges Kräftemessen mit ihren
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