MoR 01 - Die Macht und die Liebe
Problem war allerdings die geringe Zahl der neuen Rekruten. Italiens Reserven an kampfkräftigen Männern waren erschöpft, und das würde so bleiben, bis die nächste Generation das siebzehnte Jahr erreicht hatte und die Reihen wieder füllen konnte. Nicht einmal unter den Plebejern waren noch genügend taugliche Männer zu finden, zumindest nicht unter denen mit römischem Bürgerrecht.
»Und ich bezweifle sehr, daß der Senat mitmachen wird, wenn ich italische capite censi rekrutieren will«, sagte Marius.
»Sie haben keine andere Wahl«, meinte Sulla.
»Das ist richtig. Wenn ich sie dränge. Doch im Moment liegt es nicht in meinem Interesse - oder in Roms Interesse -, sie zu drängen.«
Bis Neujahr würden Marius und Sulla getrennte Wege gehen. Sulla konnte Rom jederzeit betreten, doch Marius, der immer noch mit dem prokonsularischen imperium aus dem africanischen Krieg ausgestattet war, durfte die Stadtgrenze Roms nicht überschreiten, wenn er seinen Oberbefehl nicht verlieren wollte. So reiste Sulla nach Rom, während sich Marius in sein Landhaus nach Cumae begab.
Puetoli lag, wie Neapolis, Herculaneum, Stabiae und Surrentum, an einer großen Bucht, deren nördliche Landspitze das Kap Miseno war. Die Bucht, Crater-Bucht genannt, galt als sicherer Ankerplatz. Eine Legende, älter als Erinnerungen oder Überlieferungen, erzählte, die Crater-Bucht sei einmal ein Vulkan gewesen, und bei einem seiner Ausbrüche sei das Meer in den Krater eingedrungen. Es gab immer noch Zeichen für vulkanische Aktivität. Die Feuerspalten hinter Puetoli erhellten den Nachthimmel, wenn Flammen aus den Rissen in der Erde aufflackerten, in kochenden Schlammpfuhlen bildeten sich große Blasen, die Erde war mit grellgelben Schwefelablagerungen bedeckt. Marius’ Landhaus stand ganz oben auf einer großen Klippe bei Cumae. Von dort aus konnte man die Inseln Ischia, Pandataria und Pontia erkennen, drei Gipfel mit Abhängen und Ebenen, die wie Bergspitzen durch eine blaßblaue Nebeldecke stachen. Und hier, in Marius’ Landhaus, wartete Julia auf ihren Gatten.
Es war mehr als zweieinhalb Jahre her, daß sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Julia war nun fast vierundzwanzig, Marius zweiundfünfzig. Er wußte, daß sie sich sehr danach sehnte, ihn wiederzusehen, denn sie hatte sich zu einer Jahreszeit auf die Reise von Rom nach Cumae gemacht, zu der Rom den weitaus angenehmeren Ort darstellte, denn an der See war es jetzt stürmisch und kalt. Die Sitte verbot ihr, gemeinsam mit ihrem Mann zu reisen, vor allem wenn er im Auftrag Roms unterwegs war. So konnte sie ihn weder in die römischen Provinzen begleiten, in denen er zu tun hatte, noch auf seinen Reisen durch Italien, es sei denn, er lud sie in aller Form dazu ein. Doch solche Einladungen wurden nicht gern gesehen. Wenn eine römische Adlige im Sommer an die See fuhr, kam ihr Gatte nach, sobald er konnte, doch sie mußten getrennt reisen. Und wenn ein römischer Adliger ein paar Tage in einem seiner Landhäuser verbringen wollte, nahm er in den seltensten Fällen seine Frau mit.
Julia war keine Ehefrau, die zu Hause saß und sich unablässig Sorgen um ihren Mann machte. Sie hatte Marius während seiner Abwesenheit einmal in der Woche geschrieben, und er hatte ebenso regelmäßig geantwortet. Beide hatten sie keinen Hang zum Klatsch, und so waren ihre Briefe eher kurz und betrafen ausschließlich Familienangelegenheiten, aber sie waren stets zärtlich und liebevoll. Natürlich ging es Julia nichts an, ob Marius in der Fremde mit anderen Frauen schlief, und sie war zu gut erzogen, um danach zu fragen. Ebensowenig erwartete sie, daß er ihr aus eigenem Antrieb davon erzählen würde. Solche Dinge gehörten zu den Männerangelegenheiten, und Ehefrauen hatten damit nichts zu tun. In dieser Hinsicht, so hatte ihre Mutter Marcia ihr vorsichtig erklärt, könne sie von Glück sagen, daß sie mit dem dreißig Jahre älteren Marius verheiratet sei. Sein Appetit auf sexuelle Abenteuer wäre wohl gemäßigter als der von jüngeren Männern und seine Wiedersehensfreude größer als die jüngerer Ehemänner.
Julia hatte Marius schmerzlich vermißt, nicht nur weil sie ihn liebte, sondern weil sie gern mit ihm zusammen war. Sie mochte ihn, und das machte die Trennung um so schwerer, denn ihr fehlte nicht nur der Gatte und Geliebte, sondern auch der Freund.
Als er unangekündigt ihr Wohnzimmer betrat, stand sie unbeholfen auf und stellte sogleich fest, daß ihre Beine sie nicht trugen. Sie
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