MoR 01 - Die Macht und die Liebe
tumultartigen Szenen. Männer weinten, trampelten mit den Füßen, klatschten sich die Hände wund und umarmten sich mit tränenüberströmten Gesichtern.
Ein solcher Überschwang der Gefühle verebbte freilich wie die Woge, die sich schäumend am Basaltfelsen bricht. Schnell waren die Tränen wieder getrocknet, und die Gemüter hatten sich wieder beruhigt. Aber die römischen Senatoren hatten sich für diesen Tag restlos verausgabt. Mit bleiernen Füßen schleppten sie sich nach Hause, um im Traum noch einmal jenen magischen Moment zu durchleben, in dem sie in einer Vision den gesichtslosen Quirinus vor sich gesehen hatten, wie er seine Toga über sie warf wie ein Vater über seine ihn liebenden und ihm treu ergebenen Söhne.
Die Curia war fast leer, als Crassus Orator, Quintus Mucius Scaevola, Metellus Numidicus, Catulus Caesar und der Senatsvorsitzende Scaurus wieder so weit ernüchtert waren, daß sie daran denken konnten, ihr begeistertes Gespräch abzubrechen und den anderen zu folgen. Lucius Caecilius Metellus Delmaticus, der pontifex maximus , saß immer noch reglos und kerzengerade auf seinem Stuhl, die Hände brav im Schoß gefaltet wie ein wohlerzogenes Mädchen. Nur sein Kopf war nach vorn gesunken. Das Kinn ruhte auf der Brust, und die grauen Strähnen seiner schütter werdenden Haare bewegten sich leicht in dem Luftzug, der vom offenen Portal hereinwehte.
»Bruder, das war die größte Rede, die ich je gehört habe!« rief Metellus Numidicus. Er streckte die Hand aus und drückte Delmaticus die Schulter.
Aber Delmaticus bewegte sich nicht und sagte nichts. Erst jetzt merkten sie, daß er tot war.
»Welch rühmliches Ende«, sagte Crassus Orator. »Ich würde glücklich sterben in dem Bewußtsein, daß ich auf der Schwelle des Todes meine größte Rede gehalten habe.«
Aber weder die Rede des pontifex maximus noch sein Tod noch die ganze Empörung und die Macht des Senats konnten verhindern, daß die Versammlung der Plebs das von Saturninus eingebrachte Ackergesetz annahm. Die Karriere des Lucius Appuleius Saturninus als Volkstribun hatte mit einem Paukenschlag begonnen, mit einer seltsamen Mischung aus Niedertracht und Speichelleckerei.
»Meine Arbeit macht mir Spaß«, sagte Saturninus zu Glaucia, als sie am späten Nachmittag des Tages, an dem die lex Appuleia passiert war, zu Tisch saßen. Sie speisten oft zusammen, und meist bei Glaucia. Saturninus’ Frau hatte sich von den verhängnisvollen Auswirkungen, die Scaurus’ Anklage gegen Saturninus als Quästor von Ostia gehabt hatte, nie mehr ganz erholt. »Ja, sie macht mir wirklich Spaß! Wenn ich daran denke, Gaius Servilius, daß alles vielleicht ganz anders gekommen wäre, wenn nicht der alte Schnüffler Scaurus gewesen wäre.«
»Du gehörst auf die Rednerbühne, stimmt.« Glaucia aß einige Trauben aus dem Gewächshaus. »Vielleicht gibt es tatsächlich eine Kraft, die unser Leben formt.«
Saturninus schnaubte verächtlich. »Du meinst wohl Quirinus!«
»Spotte nur«, erwiderte Glaucia. »Aber ich glaube, daß es mit dem Leben etwas ganz Besonderes ist. Es gibt im Leben mehr Sinn und weniger Zufall als in einer Runde cottabus .«
»Wo bleibt der Stoiker oder Epikureer in dir, Gaius Servilius? Weder Fatalismus noch Hedonismus? Paß auf, daß du nicht noch die alten griechischen Lästermäuler durcheinanderbringst, die so laut behaupten, wir Römer würden nie eine Philosophie zustande bringen, die wir nicht von ihnen entlehnt hätten.« Saturninus lachte.
»Die Griechen sind, die Römer handeln. Du hast die Wahl! Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der beide Lebensweisen in sich vereint hätte. Griechen und Römer stehen an den entgegengesetzten Enden des Verdauungskanals. Die Römer sind der Mund - wir schieben die Zutaten hinein. Die Griechen sind das Arschloch - sie scheiden sie aus. Aber ich will die Griechen nicht beleidigen, es war nur bildlich gesprochen.« Und wie zur Bekräftigung seiner These schob Glaucia noch ein paar Trauben in das römische Ende des Verdauungskanals.
»Da das eine Ende ohne die Beiträge des anderen nichts zu tun hätte, halten wir besser zusammen«, sagte Saturninus.
Glaucia grinste. »Der Römer spricht!«
»Römer durch und durch, auch wenn Metellus Delmaticus behauptet hat, ich sei keiner. Das war vielleicht eine Überraschung: Stirbt der alte Halunke doch genau im richtigen Moment! Wenn die konservative Clique mehr auf Draht wäre, hätte sie rasch einen unsterblichen Helden aus ihm
Weitere Kostenlose Bücher