MoR 01 - Die Macht und die Liebe
Menschenmenge. Sie hatten die eigentliche Macht, und diejenigen, die glaubten, sie besäßen die Macht, hatten sie nur so lange, wie die Köpfe in dieser Menschenmenge es ihnen erlaubten.
Also, was bedeutete das Amt des Konsuls schon? Was bedeutete der Senat schon? Nur Gerede, heiße Luft, sonst nichts! Es gab keine Armee in Rom, außer dem Trainingslager für Rekruten bei Capua gab es nicht einmal eine Armee in der Nähe von Rom. Die Konsuln und der Senat besaßen Macht ohne Waffengewalt, ohne ein Heer als Rückendeckung. Aber hier auf dem Forum war die Autorität, hier war die Rückendeckung der eigentlichen Macht. Warum mußte ein Mann Konsul sein, um der Erste Mann in Rom zu werden? Das war überhaupt nicht nötig! Hatte Gaius Gracchus das auch begriffen? Oder hatte er sich umbringen müssen, bevor er es begreifen konnte?
Ich, dachte Saturninus, werde der Erste Mann in Rom sein! Er konnte sich nicht satt sehen an den Gesichtern in der riesigen Menschenmenge. Der Erste Mann in Rom, aber nicht als Konsul. Als Volkstribun. Die Volkstribunen, nicht die Konsuln, besaßen die wirkliche Macht. Und wenn Gaius Marius sich anscheinend bis in alle Ewigkeit zum Konsul wählen lassen konnte, was sollte ihn, Lucius Appuleius Saturninus, daran hindern, sich bis in alle Ewigkeit zum Volkstribunen wählen zu lassen?
Dennoch wartete Saturninus einen ruhigen Tag ab, bis er sein Korngesetz vorlegte. Keine riesige Menschenmenge auf dem Forum durfte dem Senat einen Vorwand liefern, der Versammlung der Plebs Krawalle, Unruhen und Gewaltanwendung vorzuwerfen und deshalb das Gesetz für ungültig zu erklären. Lucius Appuleius hatte die Ereignisse um sein zweites Ackergesetz nicht vergessen, den Verrat von Gaius Marius, das Exil von Metellus Numidicus. Die Tatsache, daß das Gesetz immer noch auf den Tafeln stand, war sein Verdienst, nicht das Verdienst von Gaius Marius. Deshalb hatten die Veteranen der Proletarierarmee ihm, Saturninus, die Landzuweisungen zu verdanken.
Im November gab es nur wenige Feiertage, vor allem wenige, an denen das Volk von Rom zur Abstimmung einberufen werden durfte. Der Tod eines sagenhaft reichen Ritters brachte endlich die erwartete Gelegenheit. Die Söhne des Ritters veranstalteten zu Ehren ihres Vaters prächtige Gladiatorenspiele. Solche Spiele fanden normalerweise auf dem Forum Romanum statt, aber weil sich dort täglich die Menschenmassen sammelten, wich man mit den Spielen in den Circus Flaminius aus.
Der junge Caepio durchkreuzte Saturninus’ Pläne. Die Versammlung der Plebs war einberufen, die Zeichen standen günstig, die normalen Forumsbesucher füllten den Platz, denn die Mengen drängten sich auf dem Circus Flaminius. Die anderen Volkstribunen waren damit beschäftigt, durch Losentscheid festzulegen, in welcher Reihenfolge die Tribus abstimmen sollten. Saturninus stand vorne auf der Rednerbühne und mahnte die Wähler, in seinem Sinne abzustimmen.
Saturninus hatte nicht bedacht, daß die Senatoren die Vorgänge auf dem Forum aufmerksam verfolgten, obgleich keine Senatsversammlungen stattfanden. Einige Mitglieder des Senats freilich verachteten das feige Verhalten dieses Gremiums ebenso wie Lucius Appuleius Saturninus. Sie waren alle jung, gerade als Quästoren gewählt oder höchstens zwei Jahre älter. Sie hatten Verbündete unter den Söhnen der Senatoren und der Ritter der Ersten Vermögensklasse, die noch zu jung waren, um in den Senat einzutreten oder höhere Posten in den Unternehmen ihrer Väter zu bekleiden. Sie trafen sich grüppchenweise in ihren Häusern, der junge Caepio und der junge Metellus führten sie an. Und sie hatten einen reifen Vertrauten und Berater, der ihnen Richtung und Ziel wies. Ansonsten wären ihre Pläne möglicherweise in endlosen Diskussionen und Strömen von Wein untergegangen.
Der Vertraute und Berater wurde schnell eine Art Idol für sie, denn er verkörperte alles, was junge Männer bewundern - er war waghalsig, unerschrocken, bewahrte einen kühlen Kopf, war gebildet, so etwas wie ein Lebemann und Frauenheld, witzig, vornehm und hatte eine beeindruckende Reihe von Kriegserfahrungen vorzuweisen. Er hieß Lucius Cornelius Sulla.
Während Marius allem Anschein nach für mehrere Monate in Cumae darniederlag, hatte Sulla beschlossen, den Ereignissen in Rom nicht tatenlos zuzusehen. Sulla handelte nicht nur aus Treue zu Marius. Nach der Unterhaltung mit Aurelia hatte er seine Zukunftsaussichten im Senat kühl abgeschätzt und war zu dem Schluß gekommen,
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