MoR 01 - Die Macht und die Liebe
Sie freute sich, daß Marius seine Amtstoga und seinen Brustharnisch ablegte und auf dem Lande für eine kurze Zeit zum Gutsherren wurde, wie es alle seine Vorfahren gewesen waren. An einem kleinen Strand unterhalb ihrer prächtigen Villa gingen sie im Meer schwimmen, sie gönnten sich Austern, Krabben, Garnelen und Thunfisch in Hülle und Fülle. Lange Spaziergänge führten sie über die spärlich besiedelten Hügel. Überall wuchsen Rosen und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Sie hatten selten Gäste, und wenn ein überraschender Besucher kam, taten sie, als wären sie ausgegangen. Marius baute ein kleines Boot für seinen Sohn, das aussah wie ein großer Fisch, zum Vergnügen der Eltern ebenso wie zum Vergnügen des kleinen Marius. Noch nie, dachte Julia, war sie so glücklich gewesen wie in diesem wunderbaren Sommer in Cumae. Sie war dankbar für jeden Tag.
Aber Marius kehrte nicht nach Rom zurück. In der ersten Nacht des Sextilis erlitt er einen kleinen Schlaganfall. Er spürte keinen Schmerz, er bemerkte nur beim Aufwachen, daß sein Kissen ein bißchen naß war; anscheinend hatte er im Schlaf gesabbert. Als er zum Frühstück kam, saß Julia auf der Terrasse über dem Meer. Er starrte sie zutiefst verwundert an, denn so einen Ausdruck hatte er noch nie auf ihrem Gesicht gesehen.
»Was ist los«, nuschelte er. Seine Zunge war dick und schwerfällig, ein sehr eigenartiges Gefühl.
»Dein Gesicht...« Julia war kreidebleich geworden.
Er befühlte sein Gesicht, die Finger seiner linken Hand waren ebenso unbeholfen wie seine Zunge. »Was ist das?« fragte er.
»Dein Gesicht - auf der linken Seite ist es heruntergerutscht.« Sie schnappte nach Luft. Jetzt begriff sie. »Oh, Gaius Marius! Du hast einen Schlaganfall gehabt!«
Da er keine Schmerzen hatte und ihm keine Veränderung bewußt war, wollte er ihr nicht glauben, bis sie ihm einen großen, polierten, silbernen Spiegel reichte und er sich selbst betrachten konnte. Die rechte Hälfte seines Gesichts war fest und straff, er hatte wenig Falten für einen Mann seines Alters. Die linke Hälfte hingegen sah aus wie eine Wachsmaske, die in der Hitze einer zu nahen Fackel dahinschmolz, weglief, herunterrutschte.
»Ich fühle keinen Unterschied!« Marius war fassungslos. »Nicht im Kopf, wo man doch die Krankheit spüren müßte. Die Zunge bildet die Worte nicht richtig, aber im Kopf weiß ich, was ich sagen will, und du verstehst, was ich sage. Und ich verstehe, was du sagst, also habe ich meine Sprachvermögen nicht verloren! Meine linke Hand ist ungeschickt, aber ich kann sie bewegen. Und ich habe keine Schmerzen, überhaupt keine Schmerzen!«
Zitternd vor Wut weigerte er sich, einen Arzt kommen zu lassen, und Julia gab nach, weil sie fürchtete, sein Zustand könne sich verschlimmern, wenn sie darauf bestünde. Den ganzen Tag über sorgte sie selbst für ihn, kurz nach Sonnenuntergang überredete sie ihn, ins Bett zu gehen. Sie konnte ihm versichern, daß die Lähmung genauso aussah wie am Morgen.
»Das ist ein gutes Zeichen, da bin ich sicher«, sagte sie. »Du wirst bald wieder gesund sein. Du mußt dich nur ausruhen, noch länger hierbleiben.«
»Das geht nicht! Sie werden sagen, ich sei zu feige, ihnen ins Gesicht zu sehen!«
»Wenn ihnen etwas daran gelegen ist, dich zu besuchen - und ich bin sicher, daß sie das tun werden! -, werden sie schon merken, was mit dir los ist, Gaius Marius. Ob es dir paßt oder nicht, du bleibst hier, bis es dir besser geht«, sagte Julia resolut, ein Zug, der Marius ganz neu war an ihr. »Nein, keine Diskussionen! Ich habe recht, und das weißt du auch! Was meinst du eigentlich, was du in Rom erreichen könntest, außer daß du noch einen Schlaganfall bekommst?«
»Nichts«, stotterte er. Verzweifelt ließ er sich in seine Kissen zurückfallen. »Julia, Julia, wie soll ich mich von dieser Krankheit erholen, bei der ich mich eher häßlich als krank fühle? Ich muß gesund werden! Sie dürfen mich nicht unterkriegen, wo es jetzt um soviel geht für mich!«
»Sie werden dich nicht unterkriegen, Gaius Marius«, sagte sie bestimmt. »Nur der Tod wird dich unterkriegen, und an diesem kleinen Schlaganfall stirbst du nicht. Die Lähmung wird zurückgehen. Und wenn du dich ausruhst, dich vernünftig bewegst, mäßig ißt, keinen Wein trinkst und dir keine Sorgen über die Politik in Rom machst, wirst du viel schneller wieder gesund.«
Im Frühling regnete es in Sizilien und Sardinien überhaupt nicht, in Africa nur
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