MoR 02 - Eine Krone aus Gras
seiner einzigartigen Karriere hat Gaius Marius Rom mehr geschadet als ein paar Dutzend germanische Invasionen. Die Gesetze, die er umgestoßen hat, die Traditionen, die er zerstört hat, die Präzedenzfälle, die er geschaffen hat — die Gracchen stammten wenigstens aus dem alten Adel und ließen sich bei ihrem Handeln zumindest von einem letzten Rest an Respekt für den mos maiorum leiten, die ungeschriebenen sittlichen Normen unserer Vorfahren. Gaius Marius dagegen hat den mos maiorum untergraben und Rom einem Rudel Wölfe vorgeworfen — Kreaturen, die nichts mit der guten alten Wölfin gemein haben, die einst Romulus und Remus säugte.«
Aurelias fesselnde, große und leuchtende Augen waren mit fast schmerzhafter Intensität auf Publius Rutilius Rufus’ Gesicht gerichtet, und sie merkte nicht, wie fest er ihre Hände hielt. Hier bekam sie endlich einen Rat, an den sie sich halten konnte, eine Führung durch das schwierige Gelände, das sie mit dem kleinen Caesar durchwandern mußte.
»Du mußt die Besonderheit des jungen Caesar fördern und alles tun, was in deiner Macht steht, damit er einmal alle anderen übertrifft. Du mußt ein Ziel in ihm verankern, das er als einziger auch verwirklichen kann: den mos maiorum zu bewahren und die Lebenskraft des alten Blutes in der Tradition der Väter zu erneuern.«
»Ich verstehe, Onkel Publius«, sagte Aurelia ernst.
»Gut!« Er stand auf und zog sie mit sich. »Ich komme morgen um die dritte Stunde des Tages mit einem Lehrer zu dir. Sorge dafür, daß der Junge da ist.«
Und so kam es, daß der kleine Gaius Julius Caesar in die Obhut eines gewissen Marcus Antonius Gnipho kam, eines Galliers aus Nemausus. Sein Großvater hatte dem Stamm der Salluvier angehört und sich bei zahlreichen Überfällen auf die hellenisierten Siedlungen an der Küste Gallia Transalpinas eifrig als Kopfjäger betätigt, bis er mit seinem kleinen Sohn von einigen entschlossenen Massiliern gefangengenommen worden war. Beide wurden in die Sklaverei verkauft. Der Großvater starb bald, sein Sohn allerdings war jung genug, um den Übergang vom mordenden Barbaren zum Haussklaven in einem griechischen Haushalt zu bewältigen. Er erwies sich als kluger und gelehrsamer Bursche, und nachdem er genug gespart hatte, um sich freizukaufen, war er immer noch jung genug, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Als Braut hatte er sich ein griechisches Mädchen aus Massilia von bescheidener Herkunft ausgesucht, und er fand trotz seiner furchterregenden riesigen Gestalt und seiner hellroten Haare die Zustimmung ihres Vaters. Sein Sohn Gnipho wuchs also in Freiheit auf und zeigte bald, daß er die Neigung seines Vaters zur Gelehrsamkeit teilte.
Als Gnaeus Domitius Ahenobarbus an der Mittelmeerküste von Gallia Transalpina eine römische Provinz einrichtete, hatte er als einen seiner obersten Legaten einen gewissen Marcus Antonius mitgenommen, und dieser Marcus Antonius hatte Gniphos Vater als Übersetzer und Schreiber beschäftigt. Als dann der Krieg gegen die Arverner zu einem erfolgreichen Abschluß kam, sorgte Marcus Antonius als nicht geringes Zeichen seiner Dankbarkeit dafür, daß Gniphos Vater das römische Bürgerrecht bekam; die Antonier waren bekannt für ihre Großzügigkeit. Da Gniphos Vater bereits frei gewesen war, als Marcus Antonius ihn in seine Dienste genommen hatte, konnte er nun in Antonius’ tribus aufgenommen werden, womit er römischer Vollbürger war.
Der Knabe Gnipho äußerte schon früh den Wunsch, zu unterrichten, und er entwickelte großes Interesse an der Geographie, Philosophie, Mathematik, Astronomie und dem Bauwesen. Sobald er die Toga des erwachsenen Mannes tragen durfte, setzte ihn sein Vater in ein Schiff nach Alexandria, dem intellektuellen Zentrum der Welt. Dort studierte er in den Wandelgängen der Museumsbibliothek bei dem Bibliothekar Diokles höchstpersönlich.
Aber die Blütezeit der Bibliothek war vorüber, und die Bibliothekare hatten nicht mehr das Format eines Eratosthenes. Mit sechsundzwanzig ließ Gnipho sich deshalb als Lehrer in Rom nieder. Zunächst betätigte er sich als grammaticus, der junge Männer in der Redekunst unterwies; dann wurden ihm die blasierten jungen Adligen zuviel, und er eröffnete eine Schule für Knaben. Sie war nach kurzer Zeit ein großer Erfolg, und bald konnte er ohne Schwierigkeiten die höchsten Honorare verlangen. Um die Miete für seine zwei Schulzimmer im ruhigen sechsten Stockwerk eines Mietshauses auf dem Palatin, weit
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