MoR 02 - Eine Krone aus Gras
und dem Besucher. Der Hohepriester war ein umsichtiger, kluger Mann und hatte gleich, als ihm gemeldet worden war, ein unflätiger, rotgoldener Affe brülle nach ihm, geahnt, wer sein unbekannter Besucher war.
»Willkommen im Tempel des Asklepios auf Kos, König Mithridates«, sagte er ruhig und furchtlos.
»Ich habe gehört, daß du die Römer ebenso begrüßt.«
»Ich begrüße jeden so.«
»Aber nicht die Römer, die du auf meinen Befehl töten solltest.«
»Wenn du hierher gekommen wärst, um Zuflucht zu suchen, würdest du denselben Schutz genießen wie sie, König Mithridates. Der Gott Asklepios macht keinen Unterschied, denn alle Menschen sind irgendwann einmal auf ihn angewiesen. Das darf man nie vergessen. Er ist ein Gott des Lebens, nicht des Todes.«
»Nun gut, betrachte dies als deine Strafe.« Der König deutete auf die beiden toten Priester.
»Eine unverdient hohe Strafe.«
»Stelle meine Geduld nicht auf die Probe, Priester! Und jetzt zeige mir deine Bücher, aber nicht die Fassung, die für den römischen Statthalter gedacht ist.«
Das Asklepeion von Kos, das früher einmal zu Ägypten gehört hatte, war nach der Staatsbank von Ägypten die größte Bank der Welt, was sich der Geschäftstüchtigkeit einer langen Reihe prie- sterlicher Verwalter verdankte, die unter der Herrschaft der Ptolemäer erstmals mit dieser Aufgabe betraut worden waren. Die Entwicklung des Asklepeions als eines Geldinstituts ging also unmittelbar auf das ägyptische Bankenwesen zurück. Ursprünglich war das von Schülern des Hippokrates gegründete Asklepeion eine Tempelanlage wie andere gewesen und hatte sich der Heilkunde und Gesundheit verschrieben. Früher hatte man dort die Inkubation durchgeführt — den der Traumdeutung dienenden Tempelschlaf, der in den Tempeln von Epidauros und Pergamon immer noch praktiziert wurde. Die ägyptische Herrschaft auf Kos hatte im Lauf der Generationen bewirkt, daß die Haupteinnahmequelle des Tempels nicht mehr die Heilkunde, sondern das Geschäft mit Geld war, und die Priester waren inzwischen mehr an Ägypten als an Griechenland orientiert.
Die Tempelanlage war weitläufig, und die Gebäude waren von wunderbaren Parkanlagen umgeben — es gab eine Sporthalle, eine Agora, Läden, Bäder, eine Bibliothek, ein Priesterseminar, Unterrichtsräume für Internatsschüler, Wohnhäuser, Unterkünfte für die Sklaven, den Palast des Hohenpriesters, eine abseits gelegene Nekropole, kreisförmig angelegte unterirdische Schlafzellen, ein Krankenhaus, die großen Bankgebäude und den dem Asklepios geweihten Tempel in einem heiligen Platanenhain.
Die Gottesstatue war weder mit Elfenbein noch mit Gold verkleidet. Der Bildhauer Praxiteles hatte sie aus weißem parischen Marmor geschaffen, eine dem Zeus ähnliche, bärtige Gottheit auf einem hohen Sockel, um den sich eine Schlange wand. In der ausgestreckten rechten Hand hielt der Gott eine Tafel, zu seinen Füßen streckte sich ein großer Hund. Der Maler Nikias hatte die Statue so lebensecht bemalt, daß die Bewegungen seiner präzise gearbeiteten, natürlich wirkenden Gliedmaßen sich in den flatternden Gewändern fortzusetzen schienen. Aus den hellblauen Augen des Gottes glitzerte eine sehr menschliche und gar nicht majestätische Lebensfreude.
Den König konnte dies nicht beeindrucken. Auf seiner Inspektionsrunde durch die Tempelanlage verweilte er gerade lang genug in dem Heiligtum, um die Statue als wertloses Beutestück abzutun. Dann ging er die Bücher durch und teilte dem Hohenpriester mit, welche Schätze er zu konfiszieren gedachte, darunter natürlich das gesamte von den Römern dort eingelagerte Gold sowie über achthundert langfristig angelegte Goldtalente des großen Jerusalemer Tempels, dessen Ratsversammlung diese Notreserve dem Zugriff der Seleukiden und Ptolemäer hatte entziehen wollen. Außerdem waren da noch die dreitausend Goldtalente, die die alte ägyptische Königin Kleopatra vierzehn Jahre zuvor dort deponiert hatte.
»Wie ich sehe, hat die Königin von Ägypten dir auch drei Knaben anvertraut.«
Doch der Hohepriester sorgte sich mehr um sein Gold als um die Knaben, deshalb sagte er bemüht gelassen und ohne seinen Ärger zu zeigen: »König Mithridates, wir lagern nur einen Teil unseres Goldes hier — den Rest leihen wir aus!«
»Ich möchte auch gar nicht alles von dir«, antwortete der König mit gehässigem Unterton. »Ich will nur — sagen wir fünftausend Talente des römischen, dreitausend Talente des
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