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MoR 02 - Eine Krone aus Gras

Titel: MoR 02 - Eine Krone aus Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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die schlimmsten Ausschreitungen, die im Namen Roms begangen worden waren, das Werk einzelner oder der Massen auf dem Forum gewesen; nun bestand die Gefahr, daß das Massaker am Octavius-Tag dem Senat zugeschrieben würde.
    Keiner der Senatoren, die an Publius Cornelius Culleolus vorbeieilten, der auf der oberen Stufe des Tempels der Venus Cloacina saß, nahm von ihm Notiz. Publius Cornelius seinerseits sah die Senatoren freilich sehr wohl, und er rieb sich frohlockend die Hände. Wenn er tat, wofür ihn Gnaeus Octavius Ruso großzügig bezahlt hatte, und wenn er Erfolg hatte, dann würde er nie mehr auf diesen harten Stufen sitzen müssen und brauchte nicht mehr als Prophet zu arbeiten.
    Die Senatoren standen in kleinen Gruppen vor der Curia Hostilia, unterhielten sich über das Massaker und äußerten Bedenken, ob man dieses Thema überhaupt in der Debatte behandeln könne. Ein schrilles Kreischen ließ alle Köpfe herumfahren. Alle Augen hefteten sich auf Culleolus, der sich auf die Zehenspitzen erhoben hatte. Mit gekrümmtem Rücken stand er da, die Arme von sich gestreckt, die Finger zu Klauen verbogen. Schaum stand zwischen seinen verzerrten Lippen. Da Culleolus seine Prophezeiungen sonst nie im Zustand der Ekstase machte, nahm jedermann an, eine Krankheit habe ihn befallen. Einige Senatoren und Besucher des Forums konnten ihre Augen nicht von ihm wenden. Ein paar von ihnen kamen dem Seher zu Hilfe und versuchten, ihn zum Hinlegen zu bewegen. Aber er raste und wehrte sie mit Zähnen und Nägeln ab. Sein Mund ging noch weiter auf, und dann schrie er ein zweites Mal. Aber diesmal war es nicht nur ein Kreischen, es waren Worte.
    »Cinna! Cinna! Cinna! Cinna! Cinna!« brüllte er.
    Plötzlich hatte Culleolus ein aufmerksam lauschendes Publikum.
    »Wenn Cinna und seine sechs Volkstribunen nicht in die Verbannung geschickt werden, wird Rom fallen!« schrie er zuckend und schwankend, dann kreischte er wieder und immer wieder, bis er zusammenbrach und reglos weggetragen wurde.
    Erst jetzt merkten die erschreckten Senatoren, daß der Konsul Octavius seit einiger Zeit versucht hatte, die Sitzung zu eröffnen, und eilten in die Curia.
    Was sich der Konsul zur Rechtfertigung des Massakers auf dem Marsfeld ausgedacht hatte, sollte nun allerdings niemand mehr erfahren. Gnaeus Octavius Ruso zog es nämlich vor, seine Aufmerksamkeit und damit die der Senatoren auf den Anfall des Culleolus zu lenken und darauf, was er so laut herausgeschrieen hatte, daß es das ganze Forum hören konnte.
    »Wenn mein Amtskollege und die sechs Volkstribunen nicht verbannt werden, wird Rom fallen«, begann Octavius nachdenklich. »Pontifex Maximus und Jupiterpriester, was habt ihr zu diesen merkwürdigen Worten des Culleolus zu sagen?«
    Der Pontifex Maximus Scaevola schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich muß jeden Kommentar ablehnen, Gnaeus Octavius.«
    Octavius hatte schon den Mund geöffnet, um auf einer Antwort zu bestehen, als er etwas in Scaevolas Augen sah, das ihn seine Absicht ändern ließ. Scaevola steckte aufgrund seines angeborenen Konservatismus viel ein, aber er war nicht leicht einzuschüchtern oder hinters Licht zu führen. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er im Senat die Verurteilung von Gaius Marius, Publius Sulpicius und den anderen rundweg abgelehnt und ihre Begnadigung und Rückholung verlangt. Nein, es war besser, sich mit dem Pontifex Maximus nicht anzulegen; Octavius wußte, daß er im Jupiterpriester einen viel leichtgläubigeren Zeugen hatte und daß dieser wackere Mahn für böse Omen sehr empfänglich war.
    »Was hast du dazu zu sagen, Jupiterpriester?« fragte Octavius feierlich.
    Mit verstörtem Gesichtsausdruck erhob sich Lucius Cornelius Merula. »Lucius Valerius Flaccus Princeps Senatus, Gnaeus Octavius, ihr kurulischen Magistraten, Konsulare, eingeschriebene Väter. Bevor ich etwas zu den Worten des Sehers Culleolus sage, muß ich euch von einem Vorfall berichten, der sich gestern im Tempel des großen Jupiter zutrug. Ich war mit der rituellen Reinigung der Cella des Tempels beschäftigt, als ich Blutspuren auf dem Boden hinter dem Sockel der Statue des Gottes entdeckte. Daneben lag der Kopf eines Vogels — einer merula, einer Amsel! Deren Name ich trage! Und ich, dem durch unsere ältesten, ehrwürdigsten Gesetze verboten ist, dem Tod ins Angesicht zu blik- ken, ich sah — was sah ich? — meinen eigenen Tod? Den Tod des großen Gottes? Ich wußte nicht, wie ich das Omen deuten sollte, also befragte ich

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