MoR 02 - Eine Krone aus Gras
den Pontifex Maximus. Auch er wußte es nicht. Deshalb ließen wir die Zehnmänner für die Besorgung der heiligen Handlungen kommen und die Sibyllinischen Bücher befragen, was uns aber auch nicht weiterführte.«
Angesichts des doppelten, runden Mantels, den Merula als seine Amtstracht trug, war es nicht weiter verwunderlich, daß er sichtlich schwitzte. Sonst tat er das allerdings nicht. Sein rundes, glattes Gesicht unter dem elfenbeinernen Helm glänzte vor Schweiß. Er schluckte und redete dann weiter. »Aber ich habe vorgegriffen. Als ich den Kopf der Amsel sah, suchte ich nach dem Rest ihres Körpers und entdeckte, daß sich das Tier in einem Spalt unter der goldenen Robe der Statue des großen Gottes ein Nest gebaut hatte. Und dort im Nest lagen sechs Amseljunge, alle tot. Meiner Meinung nach muß sich eine Katze eingeschlichen haben, die die Mutter gefressen und nur den Kopf übriggelassen hat. Aber an die Jungen kam die Katze nicht heran. Sie sind verhungert.«
Merula schüttelte sich. »Ich bin beschmutzt. Nach dieser Senatssitzung muß ich die Zeremonien fortsetzen, mit denen ich mich und den Tempel des Jupiter Optimus Maximus reinige. Daß ich überhaupt hier bin, ist ein Ergebnis meines Nachdenkens über dieses Omen — weniger über den Tod der Amsel, als über das Phänomen insgesamt. Aber erst als ich heute Publius Cornelius Culleolus in seiner wahrhaft außergewöhnlichen prophetischen Raserei sprechen hörte, verstand ich die wahre Bedeutung des Omens.«
Kein Laut war zu hören. Die Augen aller waren auf den Jupiterpriester gerichtet, der als ehrlicher, ja fast naiver Mann galt und dessen Worte deshalb sehr ernst genommen wurden.
»Der Name Cinna«, fuhr Merula fort, »bedeutet nicht Amsel. Aber er bedeutete Asche, und in Asche habe ich den Kopf des toten Vogels und die Leichen seiner sechs Jungen verwandelt. Ich habe sie gemäß dem Reinigungsritus verbrannt. Ich bin zwar kein besonders kundiger Zeichendeuter, aber für mich verkörpern die Amsel und ihre Jungen Lucius Cornelius Cinna und seine sechs Volkstribunen. Sie haben Jupiter, den großen Gott Roms besudelt und in große Gefahr gebracht. Das Blut bedeutet, daß der Konsul Lucius Cinna und seine sechs Volkstribunen noch mehr Streit und öffentlichen Aufruhr verursachen werden. Daran habe ich keinen Zweifel.«
Die Senatoren begannen sich leise zu unterhalten, weil sie glaubten, Merula habe zu Ende geredet. Als er weitersprach, trat gleich wieder Stille ein.
»Noch eines, eingeschriebene Väter. Als ich im Tempel stand und auf den Pontifex Maximus wartete, blickte ich trostsuchend zum lächelnden Antlitz der Statue auf. Und — Jupiter runzelte die Stirn!« Merula erschauerte; sein Gesicht war bleich. »Ich rannte nach draußen ins Freie, ich konnte nicht länger im Tempel bleiben.«
Alle Senatoren erschauerten, und das Gemurmel hob wieder an.
Gnaeus Octavius Ruso stand auf und sah die Brüder Caesar und Scaevola Pontifex Maximus mit einem ähnlichen Gesicht an, wie es die Katze gemacht haben mußte, nachdem sie im Tempel die Amsel verschlungen hatte. »Ich denke, Mitglieder dieses Hauses, wir begeben uns am besten nach draußen auf das Forum, berichten auf der Rostra jedermann, was geschehen ist, und bitten um Meinungen. Danach wird der Senat wieder zusammentreten.«
Merula wiederholte also den Bericht von seinem Erlebnis im Tempel und die Prophezeiung Culleolus’ von der Rostra herab. Die Zuhörer sahen sich erschrocken an. Als Octavius verkündete, er werde die Entlassung Cinnas und seiner sechs Volkstribunen beantragen, wurde kein einziger Widerspruch laut.
Kurz darauf wiederholte Gnaeus Octavius Ruso in der Curia Hostilia, daß Cinna und die Volkstribunen seiner Meinung nach gehen müßten.
Da erhob sich Scaevola Pontifex Maximus. »Senatsvorsitzender, Gnaeus Octavius, eingeschriebene Väter. Wie ihr alle wißt, gelte ich seit langem als gewissenhafter Interpret der römischen Verfassung und der Gesetze, aus denen sie besteht. Meiner Auffassung nach gibt es keinen gesetzlichen Weg zur Entlassung eines Konsuls aus seinem Amt vor Ablauf seiner Amtsperiode. Allerdings gibt uns die Religion gewisse Mittel in die Hand. Wir können nicht bezweifeln, daß Jupiter Optimus Maximus seinen Unmut durch zwei Menschen kundgetan hat — durch seinen Priester und durch einen alten Mann, von dem wir alle wissen, daß er ein würdiger Seher ist. In Anbetracht dieser beiden fast gleichzeitig auftretenden Ereignisse schlage ich vor, den Konsul
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