Morag und der magische Kristall
du so stur, Mädchen?«, flüsterte er. »Was hast du verloren, dass du dich so fest an die Dinge klammerst?«
Er sah ihr tief in die Augen.
»Armes, einsames Kind, das niemanden mehr hat. Allein in der gefährlichen Welt ohne eine Mutter oder einen Vater, die es vor dem Absturz retten.«
Er machte Anstalten, sie über den Rand zu stoßen, dann riss er sie vom Abgrund zurück.
»Habe ich recht? Geht es darum? Du würdest alles dafür geben, dass Mummy und Daddy nach Hause kommen?« Seine Augen glitzerten.
»Sie sind verschollen und rufen nach dir. Kannst du sie nicht hören? Aber ich kann sie für dich zurückholen. Ich kann sie retten, wenn du es willst. Und dafür brauchst du mir nur zu geben, was ich will. Die eine Kleinigkeit, die ich will, und ich werde dafür sorgen, dass du deine Eltern sehr bald wiedersiehst.«
Morags Augen waren jetzt groß und randvoll mit Tränen gefüllt.
»Also, gib mir, was du in der Hand hältst«, drängte er sie sanft. Er atmete ein und schnupperte an ihrem Haar.
Morag blinzelte die Tränen fort und holte tief Luft, bevor sie den Mund öffnete.
»Devlish, Hexenmeister von Murst«, sagte sie mit einer Stimme, die aus den Tiefen ihres Körpers kam, »ich befehle dir, mich freizugeben. Lass uns alle gehen, oder es wird dir leidtun«, fuhr sie im strengsten Tonfall fort, den sie zuwege bringen konnte.
Devlish lockerte seinen Griff und trat überrascht zurück, wodurch er ihr genug Spielraum ließ, um sich loszureißen. Mit vor Entschlossenheit brennenden Augen stand Morag vor ihm. Zuerst schien der Zauberer ein wenig verwundert zu sein über ihr Selbstbewusstsein. Er hatte noch nie etwas Derartiges erlebt. Dann brach er in Gelächter aus, in lautes, herzhaftes Gekicher.
»Einen Moment lang habe ich wirklich geglaubt, es sei dir Ernst mit dem, was du gesagt hast«, prustete er.
»Dasselbe habe ich von dir gedacht«, erwiderte sie.
Er lachte noch heftiger und wischte sich Tränen aus den Augen. »Man stelle sich vor, dass ein so bedeutungsloses Geschöpf wie du denkt, es könne mich besiegen!«, höhnte er.
»Nicht ich«, entgegnete Morag leise. Sie hielt das Auge von Lornish hoch. »Dies hier!«
Der Stein leuchtete in ihrer Hand hell auf. Devlishs Gelächter brach ab und er starrte den Kristall entsetzt an.
»Nimm ihn herunter!«, kreischte er. »Du verstehst seine Macht nicht. Nimm ihn herunter, er ist gefährlich!«
Morag schloss die Augen und begann, einen uralten Zauber zu murmeln; Worte, die den Kristall aufschimmern und weiß glühend leuchten ließen. Devlish sah sie, von Grauen erfüllt, an und wich langsam zurück. Der Kristall leuchtete immer weißer und heller. Schon bald war es unmöglich, ihn direkt anzusehen. Morag hielt ihn sich weiterhin hoch über den Kopf und ihr Singsang wurde lauter und lauter.
»Dormier… actu… granssi…«, sang sie, und ihre Stimme schwoll an. Devlish zog sich hastig zurück, das Gesicht verzerrt von Angst.
»Nein! Nein!«, schrie er. »Nicht diesen Zauber! Nicht diesen!«
Als Morag die Augen öffnete, geschah etwas Seltsames. Es war, als hätte der Kristall Besitz von ihr ergriffen, denn ihre Augen, die normalerweise von einem dunklen, samtigen Braun waren, leuchteten jetzt grellweiß, geradeso wie der magische Stein selbst.
»Meera… sanqua… seeta… GRA!!!!«, schrie sie.
Und Devlish schrie mit ihr. Ein greller Lichtblitz zuckte auf, und es schien, als verschlinge sein Funkeln die gesamte Insel. Morags Zauber hatte die Kräfte des Kristalls entfesselt. Die Explosion schleuderte Devlish rückwärts durch die Luft. Leblos fiel er zu Boden, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, der Körper steif, als sei er aus Stein. Außerdem hatte Morags Angriff dazu geführt, dass eine gewaltige Schockwelle den Hügel hinauflief und alle Fackeln mit einem einzigen, gewaltigen Schwall auslöschte. Jähe Dunkelheit senkte sich herab; das einzige verbliebene Licht kam von dem vollen Mond.
Das Beben hatte Morag zu Boden gerissen. Trotz des heftigen Sturzes gelang es ihr jedoch, den Kristall festzuhalten und zu verhindern, dass er ins Meer zurückfiel, woher er gekommen war. Sie rappelte sich von dem nassen Holz der Pier hoch und klopfte sich mit der freien Hand ab. Benommen humpelte sie zu Bertie hinüber, der inzwischen wieder von Bord gekommen war und ängstlich am Ufer stand.
»Oh, Morag, geht es dir gut?«, fragte der Vogel, in dessen kleinen schwarzen Augen tiefe Sorge stand. »Einen Moment lang habe ich gedacht … ich habe
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