Moral in Zeiten der Krise
belügen. Vorboten eines globalen Klimaschocks und die Entschleierung einer gewaltigen Korruption bis hinauf in die Eliten der Finanz- und Wirtschaftssysteme öffneten den Menschen die Augen. Es war kein Feind, nicht die Natur, kein tragisches Schicksal – die Erdbewohner hatten ihre eigenen Lebensgrundlagen unumkehrbar ruiniert und waren dabei, dem Beispiel mancher früherer Kulturen zu folgen, die sich selbst in dem einen oder anderen Erdteil umgebracht hatten.
Eine Zeitlang konnte man sich noch mit Hilfe gigantischer Spektakel ablenken, mit Musikfesten, Weltmeisterschaften, Jagd auf Terroristen. Doch dann taten sich einige Wissenschaftler, führende Geheimdienstler und Chefdenker aus Beratungsagenturen zusammen und bildeten einen Verschwörerclub, den sie »Hermes« nannten – nach jenem Sohn des Zeus, der die Seelen vom Diesseits ins Jenseits begleitet hatte. In perfekt abgeschirmten Treffen suchten sie zunächst nach Auswegen aus dem furchtbaren Dilemma, brüteten über Computer-Simulationen und erforschten die schon von Wernher von Braun vorausgedachte Möglichkeit der Evakuierung des Planeten. Doch es fand sich keine Lösung. Klar wurde ihnen nur, dass es kein Zurück und kein Entkommen gab.
Einige Mitglieder aus der Kultur- und der Chemie-Industrie bildeten eine Untergruppe und nannten sichdie »Palliativen«. Sie sagten: Gibt es schon keine Rettung mehr, dann muss man den Leuten wie in der Palliativ-Medizin wenigstens die Endzeit so erträglich wie möglich machen. Hören wir doch mit der Bekämpfung des Drogenhandels auf, den wir ohnehin nicht mehr in den Griff bekommen. Geben wir den Drogenkonsum frei, dann wird das Zeug billiger, und die Konsumenten müssen zum Kauf keine Verbrechen mehr begehen. Übrigens sei die Pharmaindustrie kreativ genug, um tausend weitere Mittel gegen Angst, Trübsal und Resignation zu erfinden. Wenn die Leute mit schönen Träumen dahindämmern – lasst sie doch! Aber was ist, wenn sie doch immer wieder aufwachen, erschrecken und panisch werden?
Dann müssen sie halt lernen, dass die Wahrheit Irrsinn ist, so wie es ihnen die moderne Kabarett-Szene ohnehin schon beibringt. Das Wahre ist künstlich, ist phantasiert, inszeniert, halluziniert. Was die Patienten in der Fernseh-Psychiatrie spinnen, ist die Realität. Was die Politik macht, ist Theater. Der Klimaschock ist großer Bluff, die Atomgefahr ein Schauermärchen. Die Wälder, die sterben sollten, sind noch da. Die Welt ist in Ordnung, nur wir selbst werden verrückt gemacht. Also können wir alles so sein lassen, wie es ist, bis plötzlich nichts mehr da ist.
Aber der von den Hermes-Mitgliedern gewählte Vorstand protestiert. Die Geistesverwirrung der Leute auf dem sterbenden Planeten noch zu steigern, sei gemein. Das sei keine humanitäre Palliativmedizin mehr, sondern zynische Grausamkeit. Die Leute müssten bei vollem Verstand erkennen, was ihnen bevorsteht und dass sie für ihre Schuld einzustehen haben. Sie dürfen sich nicht daran vorbeimogeln, dass sie Strafe verdient haben. Sie müssen für irgendwann nachfolgende Besiedlerdes Planeten Zeugnisse hinterlassen, woran sie selbst gescheitert sind.
Es bleibt nur, unter zwei Möglichkeiten zu entscheiden. Entweder die höchstens noch verbleibenden zwei bis drei Jahrhunderte heroisch zu ertragen oder irgendwann mit einem großen Knall Schluss zu machen. Das Durchhalten würde freilich schwerfallen. Die Erderwärmung und das Artensterben werden sich kaum aufhalten lassen. Gewaltige Überschwemmungen werden Küstenstädte verwüsten, die Trinkwassernot in Trockengebieten wird Millionen Opfer fordern. Massen von Klimaflüchtlingen werden Chaos und Gewalt stiften. Den armen, bevölkerungsreichsten Ländern drohen Hungersnöte von unvorstellbaren Ausmaßen. Noch einmal: Ist der friedlosen Menschheit zuzumuten, diese Phase endloser Schrecken durchzustehen, oder wäre nicht ein Ende mit Schrecken doch barmherziger?
Nach endlosen quälenden Diskussionen willigen auch die letzten Hermes-Zweifler ein: Lasst uns das Ende bald herbeiführen. Die technische Vorbereitung ist mühsam und heikel. Durch Auslösung der Signale für einen unmittelbar drohenden Erstschlag ergehen auf der Gegenseite in Minutenschnelle Startbefehle für einen Konterschlag der Land- und U-Boot-Raketen. Das Inferno weitet sich zu dem geplanten globalen Suizid aus. Die Kraft, die den Irdischen zum Überleben fehlte, reicht jedenfalls zur Organisation des höllischen Finales.
Als ich die Urfassung dieser
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