Moral in Zeiten der Krise
innehalten lassen?
Als Mitglied der globalisierungskritischen Bewegung lerne ich später Neville Alexander kennen. Er ist ein südafrikanischer Literaturwissenschaftler und war zusammen mit Nelson Mandela auf Robben Island als schwarzer Freiheitskämpfer interniert. Wir laden ihn zu einem Kongress unserer ärztlichen Friedensbewegung ein. Als Kind in ganz rückständigen, primitiven Verhältnissen aufgewachsen, hat er in einer Missionsschule gelernt: »Du kannst erst eine Person sein, wenn du deine Nächsten liebst.« Dazu kam der afrikanische Gedanke des Ubuntu. Der besagt: »Man wird nicht von sich aus, sondern durch andere Menschen ein vollständiges menschliches Wesen.« Im südafrikanischen Widerstand begreift er: Nur der Unterdrückte kann den Unterdrücker befreien. »Das trifft wohl auf alle Befreiungskämpfe zu. (…) Auf der Gefängnisinsel Robben Island haben wir viele Wärter, die auf uns aufpassensollten, von innen verändert. Wir haben ihnen geholfen, daß sie ihre Prüfungen bestehen konnten.«
Gewiss ist Mandela und seinen Freiheitskämpfern damals der internationale Druck auf das de Klerk-Regime zu Hilfe gekommen. Aber dessen Ohnmacht hätte ja bei den Schwarzen auch eine jahrzehntelang aufgestaute Rachewut entzünden können. Stattdessen kommt nun eine geistige Kraft zum Vorschein, mit der kaum jemand in der westlichen Welt gerechnet hatte. Hier staunt man zunächst ungläubig, dann siegt das Bedürfnis, den Erfolg für die westliche Wertewelt zu vereinnahmen. Mandela ist schließlich Methodist, und Alexander war Missionsschüler. Doch die beiden und die mit ihnen verbundenen schwarzen Häuptlinge leben den Weißen einen Humanismus vor, den diese nur noch als Fassade vor sich hertragen.
Politik ist so, wie die Menschen sind, die sie
machen
Der Friedenserfolg in Südafrika ist für den Westen kein Ruhmesblatt, sondern ein Lehrstück. Hier sind die Wörter des Gutmenschen-Katalogs nicht blutleere Schaumsprache, sondern Ausdruck einer gelebten Moral. Es geht nicht darum, mit nostalgischer Wehmut zu bedauern, was wir im Rausch unserer revolutionären technischen Fortschrittsgesellschaft an Menschlichkeit hinter uns zurückgelassen haben, sondern zu erkennen, dass das scheinbar Zurückgelassene neu zu entdecken ist. Wir sind die Gefängniswärter. Wir müssen uns aus der Verlogenheit unseres herrschaftlichen Selbstbewusstseins befreien. Psychoanalytisch übersetzt, unterdrücken wir in uns selbst, was die Schwarzen auf der Häftlingsinsel Robben Island repräsentieren, nämlich unsere Gefühlswelt, die wir entweder durch Missachtung chaotisch und rebellisch machen oder zu unserer friedlichen Selbstbefreiung nutzen können. Wenn wir auf dem Ärzte-Friedenskongress dem schwarzen Neville Alexander zuhören, dann hilft er uns wie den Gefangenen-Wärtern von Robben Island, die er dort umerzogen und zum Bestehen ihrer Prüfungen vorbereitet hat.
Noch einmal: Was die Schwarzen mit Mandela in Südafrika vollbracht haben, gehört nicht ins Erinnerungsmuseum, sondern sollte als Zukunftswerkstatt begriffen werden. Jene moralische Befreiungsenergie steckt, wie verdrängt auch immer, nach wie vor auch in uns. Wir müssen sie unter der Oberfläche unserer verlogenen Glitzerkultur nur wieder ausgraben. Der Moment wäre günstig. Zwei Amtszeiten von George W.Bush haben uns den moralischen Verfall unserer Westkultur so drastisch wie überhaupt nur möglich vorgeführt. Wir haben uns von einer beispiellosen Verlogenheit zum Narren halten lassen. Von einer Weltbedrohung sollte uns der Irakkrieg erlösen. Aber was Bush fürchtete, war ja nicht die irakische Bedrohung, sondern das Platzen seiner eigenen Bedrohungslüge. Natürlich wusste er, dass Saddam Hussein weder die ihm angedichteten Massenvernichtungswaffen besaß noch für die Anschläge vom 11. September verantwortlich war. Was Bush brauchte, war eine von den heimischen und internationalen Problemen ablenkende Kriegsbegeisterung, um seine präsidiale Herrschaft noch gerade so über die Runden bringen zu können. Hinterlassen hat er uns ein ekelhaftes Guantanamo, einen ruinierten Irak mit Massen ziviler Opfer, einen nicht zu gewinnenden Afghanistankrieg, eine völlig ungenügende Klimavorsorge, eine Weltfinanzkrise, eine nationale Schande – und einen in höriger Verdummung erniedrigten Westen.
Der Kontrast ist gespenstisch. Dort das moralische Heldenstück des südafrikanischen Versöhnungswerks, hier das präsidiale Schurkenstück
als Demonstration
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