Moral in Zeiten der Krise
schon mit meiner Arbeit über Schmerz und Leiden Ende der vierziger Jahre hegte ich ähnliche Gedanken, während ich meine innere Rebellion gegen den Nazi-Allmachtsrausch zu verarbeiten trachtete. Ich wollte nicht in dem Strudel von Selbstvorwürfen, Trauern und Wut stecken bleiben, sondern Distanz im Verstehen gewinnen. Irgendwann merke ich, dass mich eine Hoffnung trägt, die meine Frau mit mir teilt. Später habe ich dann das Buch geschrieben: Wer nicht leiden will, muss hassen . Dieser Satz ist eine Kernaussage meiner Theorie über den Gotteskomplex.
Allmachtswahn als Schutz vor Ohnmachts-
angst? Der Gotteskomplex und seine Konse-
quenzen
Mit dem Gotteskomplex verfolge ich einen Prozess, der im frühen Mittelalter beginnt. Das Bewusstsein der Gotteskindschaft trägt die Menschen, wenn sie auch durch den Kirchenvater Augustin erfahren haben, dass sie der himmlischen Gnade nicht sicher sein können, immerhin jedoch des kirchlichen Beistandes auf diesem Wege. Jedes menschliche Schicksal sei durch göttlichen Ratschluss vorherbestimmt. Es sei nicht Sache der Menschen, sich göttliche Wahrheit durch eigene Forschung anzueignen. Dies könne nur durch den Glauben geschehen. Aber am Ausgang des Mittelalters erwacht ein Konflikt zwischen Gottergebenheit und individuellem Erkenntnisdrang. Man will Gott behalten, zugleich die Welt selbst erforschen. Als einer der maßgeblichen Vordenker schreibt René Descartes 1631 in seinen Meditationes : »Vielleicht bin ich etwas mehr, als ich selbst einsehe, und sind alle Vollkommenheiten, die ich Gott zuschreibe, der Möglichkeit nach irgendwie in mir enthalten, wenngleich sie sich noch nicht entfalten und noch nicht zur Aktualität gelangt sind. Mache ich doch schon an mir die Erfahrung, daß meine Erkenntnis nach und nach wächst. Und ich sehe nicht, was dem im Wege stände, daß sie so mehr und mehr wüchse bis ins Unendliche und warum ich nicht vermöge der so gewachsenen Erkenntnis alle übrigen Vollkommenheiten Gottes sollte erreichen können?«
Doch seine Prinzipien der Philosophie lässt Descartes demütig mit der Beteuerung enden: »Allein dennoch bin ich stets meiner Schwachheit eingedenk – und behauptenichts unbedingt, sondern unterwerfe alles sowohl der Autorität der katholischen Kirche wie dem Urteil der Einsichtigeren.« Zusätzlich begütigt Descartes die Kirche, indem er einen Beweis für die Existenz Gottes aufstellt.
Wer Gott aber beweisen will, folgt dem »Wisstrieb«. Dieser wiederum ist für Freud »im Grunde ein sublimierter, ins Intellektuelle gehobener Sprössling des Bemächtigungstriebs«. Es ist ja nicht zu verkennen, dass der Mensch aus dem Mittelalter mit einem gewachsenen Selbstbewusstsein und Machtanspruch heraustritt. Er ist es, der Gott durch wissenschaftliche Erkenntnis zu bestätigen unternimmt. Er sieht sich nicht mehr unerforschlich vorherbestimmt. »Der freie Wille macht uns gleichsam Gott ähnlich, indem er uns zum Herren über uns selbst macht!«, erklärt Descartes.
Von innen gesehen bedeutet das einen Rückgang von Bindungsgefühlen, von Ergebenheit und Ehrfurcht. Rationalismus gewinnt die Oberhand. »Ich denke, also bin ich«, erklärt Descartes. Später wird ihm der Philosoph Max Scheler entgegentreten und erklären: »Zuerst ist der Mensch ein ens amans , dann erst ein ens cogitans und ein ens volens , also primär ein liebendes, erst danach ein denkendes und ein wollendes Wesen.« Im gleichen Sinne sagt der Physiker Weizsäcker: »Eines inneren Friedens fähig werden wir nicht durch unser Verdienst, sondern weil wir geliebt sind und darum Gott und in Gott die Menschen lieben dürfen.«
So gesehen, steht nicht die Frage Wissen oder Glauben vornan, sondern Herrschaftswille oder Liebe. Der Mensch ist in die Neuzeit mit dem Herrschaftswillen getreten. Die Idee des Allmachtgottes verinnerlichend,ist er schrittweise auf die moderne Fortschrittsvision verfallen, nämlich mit Hilfe der wissenschaftlich technischen Revolution seine Herrschaft über die Dinge unendlich zu erweitern. »Er versteht sich als herrschaftliches, unterwerfendes Subjekt«, schreibt Johann Baptist Metz. »Sein Wissen wird vor allem Herrschaftswissen, seine Praxis Herrschaftspraxis gegenüber der Natur«. So bildet sich seine Identität. »Er ›ist‹, indem er unterwirft. Alle nicht herrscherlichen Tugenden des Menschen, die Dankbarkeit etwa und die Freundlichkeit, die Leidensfähigkeit und die Sympathie, die Trauer und die Zärtlichkeit treten in den Hintergrund.
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