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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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Sie werden gesellschaftlich und kulturell entmächtigt, werden allenfalls in ›verräterischer Arbeitsteilung‹, der in dieser herrscherlichen Männerkultur ohnehin entmächtigten Frau anvertraut.« All das aber ist durch Unterdrückung der Bedürfnisse entstanden, die verdrängt, aber nicht verschwunden sind: Sehnsucht nach Gehaltenwerden, nach Versöhnung, nach Frieden. Dazu gehört auch, Leiden als menschlich anzunehmen und nicht ewig die innere Zerbrechlichkeit beherrschen zu müssen. Im Gotteskomplex, dem wir weitgehend verfallen sind, ist es indessen zu einer fatalen kreisförmigen Eigendynamik gekommen: Einerseits zu der Obsession, alles herrscherlich in den Griff zu bekommen, was bedroht, was schwach und ohnmächtig macht. Andererseits zu der beklemmenden Erfahrung, dass eben dieser Herrschaftsdrang, als Fortschrittsvision fixiert, zwangsläufig in Inhumanität und schließlich in Selbstzerstörung endet. In der Hektik unseres Erfolgszwanges steckt Hass. Hass auf die ewigen Konkurrenten, Hass auf die eigene Zerbrechlichkeit. Das ist der Komplex, in dem wir stecken zu bleiben drohen. Aber dann werden der leidende Mandela und sein mitleidender Wärter vonihrem Hass befreit durch etwas, was Mandela Herzensgüte nennt. Auf Anregung eines Lesers erlaube ich mir, mein Buch über den Gotteskomplex mit einer Widmung an Joseph Kardinal Ratzinger zu schicken, der 2005 Papst Benedikt XVI . werden sollte. Dies ist seine liebenswürdige Antwort:
    »Sehr geehrter Herr Professor Richter!
Haben Sie herzlichen Dank für die freundliche Zusendung Ihrer mit persönlicher Widmung versehenen Studie über ›Die Geburt und die Krise des Glaubens an
die Allmacht des Menschen‹, die Sie Ende der siebziger Jahre veröffentlicht haben. Ihre analytische Bestandsaufnahme der modernen westlichen
Zivilisation, in der Sie tiefgreifende Verirrungen mit folgenreichen Störungen aufdecken, vermag über alle zeitbedingten Schattierungen hinaus wache
Geister zur Nachdenklichkeit anzuregen. Wo menschliches Handeln nicht mehr dem menschlichen Sein entspricht, fällt die Wahrheit um in die Lüge. Von
meinem Glauben her würde ich dem, was Sie aus langem persönlichen Ringen und vielfältiger Erfahrung heraus so hilfreich und überzeugend sagen, noch
hinzufügen, dass der ›Gotteskomplex‹ letztlich nur durch die Selbstüberschreitung, durch die Zuwendung zum wirklichen, lebendigen Gott überwunden werden kann.
    Mit besten Grüßen und Segenswünschen bin ich
    Ihr
    Joseph Cardinal Ratzinger«

Götter in Weiß
    Im Gotteskomplex steckt der Selbsthass, dessen Projektion zu der Krankheit Friedlosigkeit führt, die Weizsäcker beschreibt. Aber woher kommt der Selbsthass? Er entsteht, weil der Mensch in sich die Gefühle der Gebundenheit, der Anhänglichkeit, des Angenommen-Sein-Wollens unterdrückt. Er verdrängt diese Bedürfnisse, weil sein neues Ziel nur noch Herrschen heißt, Fortschritt zu immer mehr Macht, Macht über die Dinge und Verachtung für alle Zustände von Ohnmacht und Hingabe. Hingabe heißt jetzt, sich selbst aufgeben, schwach sein, ohnmächtig sein. Aber all das ist Auflehnung gegen einen Kern des eigenen Wesens. Je mehr der Mensch durch »Fortschritt« dem Allmachtsgott gleich werden will, kommt ihm der Gott der Liebe abhanden.
    Deshalb hat der Mann lange Zeit der Frau zugeteilt, was er in sich selbst verdrängte.
    Das verzerrte Menschenbild des einseitigen männlichen Machtehrgeizes findet sich in der Extremvariante des Nazi-Hasses auf körperliche Minderwertigkeiten. Jeder Behinderte, jeder sichtbar psychisch Kranke bedeutete für die Nazi-Ärzte der Herrenrasse-Ideologie eine ängstigende Erinnerung an die unterdrückte eigene Schwäche. In diesen Menschen begegneten sie der eigenen Fehlerhaftigkeit, der eigenen verdrängten Hinfälligkeit. Vom Gotteskomplex befallen, fühlten sie sich dazu berufen, das »Völkische Erbgut« von »schädlichen Elementen« zu befreien.
    Man kann es teuflisch nennen, wenn Ärzte sich im wörtlichen Sinne als »Halbgötter in Weiß« berufen fühlen, indem sie »unwertes Leben« wie Unkraut auszurottentrachten. Aber die nachfolgende Generation muss wissen, dass hier nicht einzelne abartige Rohlinge am Werke waren, sondern dass diese Ausrottungsmentalität im Ärztestand weit um sich gegriffen hatte. Die Perversion des Gewissens führte zur Umdeutung der Grausamkeit zu einer vermeintlichen Wohltat für eine durch erbliche Übel bedrohte Menschheit. Und die Bevölkerung im Nazi-Staat zweifelte

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