Moral in Zeiten der Krise
Erbforscher, die ihr ursprünglich eugenisches Konzept der vorgeschriebenen Judenfeindlichkeit widerstandslos unterordnen. In der dritten Auflage schreibt Mitautor Prof. Lenz noch: »Den einseitigen Antisemitismus des Nationalsozialismus wird man natürlich bedauern müssen. Es scheint leider, dass die politischen Massen solche Anti-Gefühle brauchen.« In einer früheren Auflage hatte er sogar verkündet: »Der jüdische Geist ist neben dem germanischen die hauptsächlichst treibende Kraft der modernen abendländischen Kultur.« Aber dann kommt Hitler an die Macht. Prompt warnt Lenz in der nächsten Auflage vor »dem schweren Schaden, den die Juden durch Zersetzung einem Wirtsvolk bereiten könnten«. Nun sagt er: »Ein Lebewesen gedeiht besser ohne Parasiten.« Bis in die entmenschlichende Wortwahl hinein vollzieht er den Schulterschluss mit dem Regime. Die Sprache verrät die gleiche Ausrottungsmentalität, die auch der Inquisition zugrunde lag. An die Stelle der Ausmerzung der Ketzer und der Andersgläubigen »als Unkrautim Garten des Herrn« tritt nun die Ausrottung der Juden als »Parasiten, die das germanische Blut verunreinigen«.
Die Selbstheiligung nach der Logik des Gotteskomplexes verklärt den Hass der Friedlosigkeit zum Eifer einer Läuterungskampagne. Die Ausmerzung wird eine edelsinnige Reinigungsprozedur. Die Korruption des Gewissens verfälscht die mörderische Vernichtungspolitik der Nazis vom Holocaust bis zur sogenannten Euthanasie zu einem heiligen Krieg gegen das Böse oder zu einer medizinischen Operation, bei der malignes Gewebe entfernt wird. So kann sogar der später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Verhaltensforscher Konrad Lorenz 1940 feststellen: »Aus der weitgehenden biologischen Analogie des Verhältnisses zwischen Körper und Krebsgeschwulst einerseits und einem Volk und seinen durch Ausfälle asozial gewordenen Mitgliedern andererseits ergeben sich große Parallelen in den notwendigen Maßnahmen… Jeder Versuch des Wiederaufbaus der aus ihrer Ganzheitsbezogenheit gefallenen Elemente ist daher hoffnungslos. Zum Glück ist ihre Ausmerzung für den Volksarzt leichter und für den überindividuellen Organismus weniger gefährlich als die Operation des Chirurgen für den Einzelkörper.«
Wer auch immer der Kategorie der krebsartigen Schädlinge zugerechnet wird, – das Votum für die Eliminierung durch den »Volksarzt« ist schrecklich, fügt sich aber in die ethische Perversion der Nazi-Heilslehre: Die Vernichtungspolitik wird durch den Opfergedanken scheinbar geadelt. Die Ausmerzung der für das Volksganze als schädlich erklärten Einzelnen oder Gruppen wird zum gerechten Opfer für das Wohl der völkischen Gemeinschaft. Dabei schimmert immer wieder die Phantasie der Identifizierung mit der »Vorsehung«und dem Allmachts-Gottesbild durch. Der »Volksarzt« hilft nach, um die Unvollkommenheiten der Schöpfung zu kompensieren. Daher Hitlers Gedanke, dass die aktuell betriebene »rassenhygienische Reinigungsarbeit« sich vielleicht erst in Jahrhunderten auswirken werde. Der Nazi-Volksarzt soll auf lange Sicht die reine Herrenrasse hervorbringen, nämlich die wahren Exemplare göttlicher Ebenbildlichkeit. So zerstört der Wahn des Gotteskomplexes in der Nazi-Medizin die Menschlichkeit.
Das widerspricht von Grund auf dem Eid des Hippokrates, an den – in immer zu modernisierender Form – jeder Arzt gebunden ist. Er enthält u. a. die folgenden Verpflichtungen:
»Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht.«
»Heilig und fromm werde ich mein Leben bewahren und meine Kunst.«
»In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung.«
»Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht breche, so möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg beschieden sein, dazu Ruhm unter allen Menschen für alle Zeit, wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, dessen Gegenteil.«
Medizin und Gewissen heute
Die Generation der Auschwitz-Ärzte ist abgetreten, mit ihr die große Mehrzahl derjenigen, die in der Anprangerung der Verbrechen der
Nazi-Ärzte einen größeren Skandal erblickten als in diesen Verbrechen selbst. In den Gesundheitsberufen ist eine neue Generation herangewachsen, die
radikale Aufklärung darüber verlangt, wo sich die Medizin in der Nazizeit schuldig gemacht
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