Moral in Zeiten der Krise
andere eingebrockt.« Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt, erklären Kanzlerin und Vizekanzler. Wie aber hätten dies die Arbeitslosen und die Hartz-IV-Empfänger tun können?
Diese eklatante Ungerechtigkeit erklärt sich nicht aus Sachzwängen, sondern eindeutig aus moralischem Versagen der Verantwortlichen. Mag sein, dass die Kanzlerin eigene Bedenken dem Koalitionsfrieden opfert. Doch das ändert nichts an dem Vertrauensverlust, den die Preisgabe von Gerechtigkeit unmittelbar nach sich zieht. Und wenn es der Verrat an den Prinzipien humanen Zusammenlebens ist, der die Koalition zusammenhält, dann muss diese eben platzen.
Beispiele wie die unverantwortliche Handhabung der Sparpolitik finden sich täglich in den Medien. Die psychische Korruption wächst nach Art eines Kraken. Allerdings muss man nicht immer gleich an Schuld und Schande denken. Denn es gibt ja auch jenes Schwinden von Sitte und Anstand, das mit Krankheit zu tun hat, so wie von Weizsäcker die seelische Krankheit Friedlosigkeit beschreibt. Die Krankheit psychische Korruption greift um sich wie jene autodestruktive Stimmung, die ich in der schaurigen Satire Alle redeten vom Frieden gerade erläutert habe: Es geht doch ohnehin alles bergab.Wir haben schon zu viel kaputt gemacht. Mach, was dir Spaß macht, solange es noch geht. Scher dich nicht um die anderen.
Nach dem letzten Weltkrieg gab es viele, die ihre Ängste und Schuldgefühle auf eine scheinbar hoffnungslose Weltlage projizierten, bis ihnen mit oder ohne Therapie klar wurde, dass es an ihnen selbst lag, sich und die Dinge zu verändern. Solche, die das bei sich und bei anderen erlebt haben, sind überwiegend zuversichtlich geblieben. Und denen ist meist bewusst, dass wir heute unseren Kindern und Enkeln mehr davon vorleben müssen, das in sie eingeht und geeignet sein kann, ihre innere Widerstandskraft zu stärken.
Teil II – Politik und psychische Krankheit
Friedlosigkeit ist eine seelische Krankheit:
Carl Friedrich von Weizsäcker
Es sind nicht nur Psychiater und Psychoanalytiker, die nach den psychischen oder psychopathologischen Wurzeln politischen Verhaltens und speziell von Friedensfähigkeit oder Kriegsbereitschaft fahnden. Den Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker beschäftigte zum Beispiel die psychologische Quelle von Friedlosigkeit. Der gleiche Weizsäcker, den Albert Einstein namentlich verdächtigt hat, für Hitler den Bau einer Atombombe vorzubereiten. In seinem berühmten Brief an Präsident Roosevelt, der die Empfehlung für das amerikanische Atombauprojekt enthielt, berief sich Einstein tatsächlich irrigerweise auf Weizsäcker, der damit ahnungslos in eine Entwicklung verstrickt wurde, die zu Hiroshima führte. Weizsäcker war später Initiator der berühmten Göttinger Erklärung, in der 18 deutsche Atomphysiker jede Beteiligung an der Herstellung und Erprobung von Atomwaffen grundsätzlich ablehnten.
Eben dieser Weizsäcker hält 1967 eine bemerkenswerte öffentliche Rede über »die seelische Krankheit Friedlosigkeit«. Obwohl selbst kein Psychoanalytiker, benutzt er eine psychoanalytische Deutung, um seine These plausibel zu machen. Mit der Psychoanalyse ist er durch seinen Onkel Viktor vertraut, den Vater der Psychosomatischen Medizin in Deutschland, dem ich, nebenbei gesagt, die Empfehlung für eine psychoanalytische Ausbildung verdankte. »Friedfertig ist, wer Frieden um sich entstehen lassen kann«, erklärt Carl Friedrich. »Das ist eine Kraft, eine der größten Kräfte des Menschen. Ihr krankhaftes Aussetzen, fast stets durchmangelnden Frieden mit sich selbst, ist die Friedlosigkeit.« Der Selbsthass werde auf den Feind projiziert. Weil das unbewusst ablaufe, helfe weder Belehrung noch Verdammung, allenfalls Heilung, etwa wie in der Psychoanalyse durch Vermittlung von Selbsterkenntnis. Von Krankheit könne man deshalb sprechen, weil bei fast allen höheren Tieren in Rivalenkämpfen eine instinktive Tötungshemmung einsetze, die der Erhaltung der Art diene. Der Mensch bilde als potentieller Massenmörder eine Ausnahme. So müsse er selbst für seine krankhafte Abirrung einstehen.
Hier fügt Weizsäcker einen schwerwiegenden Satz an: »Und wir sind ja in der Tat von Selbstzerstörung bedroht.« Er spricht von »Wir«. Also geht es nicht nur um eine individuelle, sondern zugleich um eine gemeinsame Krankheit. Wir allesamt bedrohen uns mit Selbstausrottung. Als ich 1979 Der Gotteskomplex schreibe, kenne ich Weizsäckers Text noch nicht. Aber
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