Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
Vom Netzwerk:
nicht an diesen »Wohltätern«, so wie diese sich mehrheitlich des eigenen Edelsinns sicher glaubten.
    Wenn aber die rassistische Ausrottungsmentalität eine Zeitlang als Normalität, gar als heilsam für die Gesamtheit durchgehen konnte, und dies noch in jüngster Zeit, so sollte das als Verpflichtung zu unermüdlicher Aufklärung reichen. Vorläufig ist kein neuer Hitler in Sicht. Aber dass in einer unkritischen Fortschrittsvision nach wie vor der gefährliche Keim des Gotteskomplexes steckt, der in neuen Varianten zu gefährlichen Auswüchsen führen könnte, ist doch zu bedenken.

Ärzte in politischer Mitverantwortung –
Ein Kongress und die Folgen
    Ich bin 1981 zum 30. Jubiläum der »Deutschen Gesellschaft für ärztliche Fortbildung« nach Berlin eingeladen. Ich spreche über »Die Rolle und das Selbstverständnis des Arztes« vor 4000 überwiegend jungen Kolleginnen und Kollegen.
    »Wir müssen hinnehmen«, sage ich, »dass Krankheit, Gebrechlichkeit und Sterben ein menschliches Los sind, dass der Traum von der medizinisch herstellbaren permanenten Fitness begraben werden muss und dass dem Fortschritt zu immer großartigerer Stärke und Herrschaft über die innere und die äußere Natur Grenzen gesetzt sind.« Man müsse im Arzt einen einfühlsamen Helfer finden, dessen fachlicher Kunst natürliche Grenzen gesetzt seien. Ich erwähne meine These aus dem Gotteskomplex , dass wir einander zu helfen haben, die Angst vor Ohnmacht und Leiden und gleichzeitig die Idealisierung von Omnipotenz abzubauen. Ich kann mich dann aber nicht eines abschließenden Hinweises auf die politische Mitverantwortung unseres Berufes enthalten, deren Missachtung dazu beigetragen habe, dass Teile der Ärzteschaft sich ahnungslos oder bewusst unlängst für die unheilvollsten Zwecke hätten missbrauchen lassen.
    Die FAZ und Meyers Lexikon drucken meinen Redetext ganz bzw. in großen Teilen ab. In meiner Gießener Medizinischen Fakultät ist daraufhin die Hölle los. Gleich fünf Direktoren der großen klinischen Fächer tun sich zusammen. Ein spontanes Protestschreiben von ihnen an die FAZ wird von dieser allerdings nicht abgedruckt. In kurzen Abständen treffen sich meineKontrahenten und feilen in Klausur an einer kritischen Entgegnung. Eine Diskussion mit mir und den Medizinstudenten lehnen sie ab. Ein Jahr später erscheint ihr zigmal umgeschriebener Gegentext in der Welt und im Deutschen Ärzteblatt .
    In der Aufregung über mich kocht eine Wut wieder hoch, die Alexander Mitscherlich mit seiner Dokumentation und Kommentierung des Nürnberger Ärzteprozesses von 1946 ausgelöst hatte. Seine Dokumentation wurde erst 1960 der Öffentlichkeit bekannt. Sie enthält Aufzeichnungen über die kriminellen Menschenversuche von SS -Ärzten an KZ -Häftlingen, über die Ermordung von 5000 geistig behinderten und gelähmten Kindern sowie von etwa 100 000 erwachsenen psychisch Kranken oder als asozial erklärten Erwachsenen im Rahmen der als Euthanasie ausgegebenen Vernichtungsaktion.
    Aus Teilen der Ärzteschaft ergoss sich eine Welle von Beschimpfungen über Mitscherlich, der dazu schrieb: »Man könnte glauben, wir hätten alles, was hier verzeichnet ist, erfunden, um unserem ärztlichen Stand zu schaden.«
    Lange Zeit konnte man eine Diskussion darüber unterdrücken, wie tief medizinisch promovierte Anthropologen und führende Vertreter der Ärzteschaft in Hitlers Ausmerzungspolitik verstrickt waren. Schon am 13. 04. 1933 hatte das Deutsche Ärzteblatt wörtlich von einem Treffen offizieller Standesvertreter mit Hitler berichtet: »Hitler legt seine Ziele dar und erklärt seine Absichten zur Reinigung des Volkes und namentlich der intellektuellen Schichten von fremdstämmigem Einfluss und rassefremder Durchsetzung. Er betonte,dass man durch baldige Ausmerzung der Überzahl jüdischer Intellektueller dem natürlichen Anspruch Deutschlands auf arteigene geistige Führung gerecht werden müsse. Die rassenhygienische Reinigungsarbeit, die jetzt geleistet wird, wirkt sich vielleicht erst in Jahrhunderten aus. Die deutsche Ärzteschaft ist dazu berufen, an diesem Werk durch ihre wissenschaftliche Forschung durch weitgehende Aufklärung des Volkes und durch ihr praktisches Wirken daran mitzuarbeiten.«
    Hitler wird 1923 inspiriert durch das Lehrbuch der drei medizinisch promovierten Erbforscher E. Baur, E. Fischer und F. Lenz: Menschliche Erblehre und Rassenhygiene , das 1921 erschien. Die folgenden Auflagen geben ein typisches Beispiel für

Weitere Kostenlose Bücher