Moral in Zeiten der Krise
Verbrechen, die in der Psychiatrie begangen worden waren. Noch bis in die siebziger Jahre mussten Kritiker der Nazi-Medizin um ihren Ruf mehr fürchten als Verteidiger der Täter.Über die von mir selbst erlebten Schikanen durch einen Chef »vom alten Geist« in der Psychiatrischen Uni-Klinik, wo ich meine Facharztausbildung absolvierte, könnte ich lange Geschichten erzählen. Erst eine neue Generation von kritischen Sozialpsychiatern machte diesem Spuk ein Ende. Und nun werde ich als vormaliger »Nestbeschmutzer« für das ausgezeichnet, was man mir lange übelgenommen hat.
Die Psychoanalyse bleibt jedoch dafür zuständig, die im Vergessen wirkende Verdrängung im Auge zu behalten. Es gibt eine laut bekundete »Fassungslosigkeit« über furchtbares Geschehen, wobei das Wort unbewusst verrät, dass man nicht will, was man sollte. »Unbegreiflich!« sagt man, obwohl meist erst das Begreifen standfest machen kann.
Keinesfalls wollen wir uns in den Hexenjagden und Hexenprozessen wiedererkennen, die es bis ins 18. Jahrhundert hinein gab, obwohl dabei in Europa etwa 50 000 Frauen und Männer hingerichtet wurden. Auch damals erfand man dafür abstruse »Reinigungs«-Begründungen. Und es waren Kaiser, Päpste, Juristen und gebildete Schichten, die für Verbrennung der vermeintlichen Täterinnen und Täter plädierten. Wie sich gezeigt hat, sind eben auch Ärzte nicht automatisch durch ihren Eid gegen die Korrumpierung ihres Gewissens gefeit. Und in Psychoanalysen zeigt sich: Gerade solche Persönlichkeiten, denen nichts wichtiger scheint als die Ausrottung des Bösen aus der Welt, haben besonderen Grund, auf eigenen inneren Unfrieden als Ursache von Hassprojektion zu achten.
Heute kann ich die Auflösung mancher gesellschaftlicher Verdrängungen verfolgen, mit deren Deutung ich einstmals Unwillen erntete. Wenn die Mitscherlichs seinerzeit mit ihrem Buch von der deutschen Unfähigkeitzu trauern viel Missfallen erregten, so wurde von den Lesern zunächst nicht verstanden, dass ihnen eigentlich eine Hilfe nahegelegt wurde. Schweigendes Entsetzen über das Geschehene verhindert, sich für Mitleid zu öffnen und durch Demut wieder etwas von der preisgegebenen Selbstachtung zurückzugewinnen. Der Kniefall von Brandt vor dem Getto-Mahnmal in Warschau war das Zeichen von Schuldgeständnis und Demut, das den überlebenden Opfern ermöglichte, den Deutschen wieder die Hand zu reichen. Mitleiden ist die Brücke, um Humanität zurückzugewinnen. Psychoanalytisches Deuten hofft immer, hinter dem zunächst erregten Widerstand das Unterdrückte hervorzuholen, in diesem Falle die heilsame schmerzliche, aber am Ende befreiende Selbstkritik. Das möchte ich anhand einer Fallstudie illustrieren.
Der psychoanalytische Zugang zu den
Impulsen der Vernichtungsmedizin –
Eine Fallstudie
Euthanasie und Zwangssterilisation sind abgeschafft. Aber die Beweggründe, die den Kampf gegen das sogenannte unwerte Leben genährt haben, sind nicht aus der Welt. Wie sieht es heute in den Familien aus, in denen ein Mitglied von einer unheilbaren, unheimlichen Nervenkrankheit befallen ist? Wie gehen die Menschen mit ihren Ängsten, ihrem Entsetzen, ihren Schuldgefühlen, aber auch mit ihrem Abscheu, ihren Ausgrenzungsimpulsen um? Wachsen sie in der Not enger zusammen? Werden sie von außen unterstützt oder eher allein gelassen? Wie verhält sich die Medizin? Distanziert ratlos oder engagiert hilfreich?
In unserer Psychosomatischen Uni-Klinik haben wir uns mit solchen Fragen an Familien gewandt, in denen ein Mitglied von einer unheilbaren Nervenkrankheit befallen ist, der Chorea Huntington . Bei dieser kommt es zu zunehmenden psychischen Ausfällen und körperlichen Bewegungsstörungen. In einem fünfjährigen Projekt haben wir solche Familien familientherapeutisch begleitet, haben protokolliert, einwilligende Familien gefilmt, um unsere Medizinstudenten auf dieses Aufgabengebiet vorzubereiten, aber auch um selbst besser zu verstehen, wie human oder weniger human unsere heutige Gesellschaft mit dem noch vor kurzem unwert genannten Leben umgeht.
Ich schildere eine eigene typische familientherapeutische Erfahrung aus diesem Projekt. Zur Unkenntlichmachung der Personen sind einige äußere Daten verändert. Von einer benachbarten Klinik überwiesen, stelltsich bei mir eine Familie vor – Eltern um die 50, zwei Töchter, 23 und 17 Jahre. Der Vater hat sich im Außendienst eines großen Versandhauses hochgearbeitet. Die Mutter, einst Bibliothekarin,
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