Moral in Zeiten der Krise
hat, wo Widerstand geleistet wurde, was von den überlebenden
Opfern der »rassehygienischen« Ausmerzungskampagne noch zu erfahren ist. Die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges und
für soziale Verantwortung hat 1996 zur 50. Jährung des Nürnberger Ärzteprozesses einen Internationalen Kongress zum Thema »Medizin und Gewissen«
organisiert. Zwei weitere Tagungen unter dem gleichen Namen folgten 2001 und 2006, alle drei mit sehr hoher Beteiligung. Eine Initiatorengruppe aus
Nürnberg und Erlangen hat zusammen mit dem Berliner Büro der IPPNW eine Riesenarbeit geleistet, wobei allein das Herbeiholen und Betreuen verfolgter und
vertriebener Zeitzeugen einen hohen Aufwand erforderte. Es waren dramatische Tage für Hunderte von Medizinern, Therapeuten, Schwestern, Pflegern und
Mitgliedern anderer psychosozialer Berufe. Was sie mitnahmen, waren Einblicke in eine Zeit organisierter Mitleidslosigkeit gegenüber vermeintlich
minderwertigen oder unwerten Mitmenschen, an der die Heilberufe mitgewirkt hatten. »Medizin und Gewissen« hatte ich die Tagungen genannt. Statt »und«
hätte auch »ohne« gepasst.
Im November 2009 reist der New Yorker Psychiater Robert J. Lifton mit einem 90-Minuten-Dokumentarfilm durch Deutschland. In dem Film schildert Lifton, was er aus zahlreichen Interviews mit ehemaligen deutschen Auschwitz-Ärzten erfahren hat, was sie gedacht, was sie getan haben und wie sie rückblickend zu ihren Taten stehen. Darüber hat er bereits vor 20 Jahren das dicke Buch Ärzte im Dritten Reich geschrieben, wo schon einiges von dem zu lesen ist, was er jetzt im Film erneut erzählt. Es ist darum aber nicht weniger aktuell, denn das heutige Publikum spürt: Was vor 70 Jahren geschehen ist, enthält eine permanente Gefahr. Das Verschweigen geschah nicht nur aus Scham über das Vergangene, sondern auch in der Ahnung, dass wir uns nach wie vor unsicher sind, was die innere Welt unserer Kultur neben ihren humanistischen Hoffnungen an fortdauernder Disposition zu Gewissenlosigkeit in sich birgt.
Ich habe Robert J. Lifton vor 29 Jahren in England kennengelernt, als wir beide darauf sannen, die internationale Ärzteschaft zum Widerstand gegen die Atomkriegsbedrohung zu drängen. Wir haben gemeinsam am Entwurf eines neuen ärztlichen Eides gearbeitet, der Ärzte zur Verweigerung von medizinischen Trainings für den Atomkriegsfall nötigen sollte. In unserer deutschen Sektion haben damals tausende Ärzte eine solche Verpflichtung unterschrieben, die ich als sogenannte Frankfurter Erklärung entworfen hatte. Beide haben wir fortan ununterbrochen über die Selbstbedrohung unserer westlichen Gesellschaft durch Abschwächung der inneren Widerstandskräfte geforscht und aufgeklärt, und beide sind wir heute als deutlich über Achtzigjährige genau so aufklärerisch aktiv wie vor 30 Jahren. Der Publikumsandrang zu Liftons Film über die SS -Ärzte in Auschwitz zeigt: Die Menschen wollen sich noch erinnern und prüfen, ob, was damals war, wirklich vergangen ist.
Inzwischen ist mir die deutsche Ärzteschaft nach langen Vorbehalten sichtbar entgegengekommen, indem sie mir 2008 ihre höchste Auszeichnung, die Paracelsus-Medaille, zuerkannt hat. Professor Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, hat auf unserem Kongress »Medizin und Gewissen« 2001 aktiv mitgewirkt.
Für das Zeichen des Vertrauens vonseiten der Kollegenschaft bin ich dankbar. Eine wichtige Erfahrung des Altwerdens liegt darin, dass es die allmähliche Auflösung von unheilvollen gesellschaftlichen Verdrängungen mitzuerleben erlaubt. Sigmund Freud hatte schon 1921 an gefährliche archaische Anlagen erinnert, die Durchbrüche von massenpsychologischen Primitivreaktionen auslösen können. Das hatte er in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse erläutert. Als die in der Mehrzahl jüdischen Psychoanalytiker bald selbst Angriffsziel einer solchen Reaktion wurden, war ihnen nicht nur die Fortsetzung dieser Forschung, sondern der politischen Psychoanalyse überhaupt verwehrt. Die Traumatisierung durch die Verfolgung ging so weit, dass die Psychoanalytiker auch in der Emigration vorerst gesellschaftskritische Themen mieden.
Die Mehrzahl der leitenden deutschen Psychiater, die mit den Massenmorden der sogenannten Euthanasie beauftragt waren, blieb nach dem Krieg im Amt und verhinderte über viele Jahre das Übergreifen des Entsetzens über den Holocaust auf die
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