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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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leidet seit fünf Jahren an einer Chorea Huntington . Eine zierliche, freundliche Frau, die noch feinfühlig reagiert. Mit einiger Anstrengung liest sie auch noch zeitkritische Bücher, aber kann darüber nur schwer Auskunft geben. Verschüchtert hört sie mit an, wie ihr Mann schonungslos ihre Störungen schildert: dass ihr immer wieder Geschirr aus den Händen falle, dass sie mitunter wie ein Tiger herumschleiche. Plastisch malt er seinen Abscheu aus. »Ich müsste blind sein, um das nicht sehen zu müssen!« Den Töchtern merke ich an, dass sie sich für den Vater schämen. Aber er will ganz deutlich machen, wie er unter dem Verfall seiner Frau leidet. Wann immer er kann, beschäftigt er sich außerhalb. Die Töchter nehmen die Mutter in Schutz, loben, dass sie sich nicht mehr in Alkohol flüchte, was sie eine Zeit lang versucht habe. Sie berichten von Familiengesprächen, zu denen sie den Vater regelrecht einladen. Er möge doch mehr mit der Mama reden und damit aufhören, unentwegt mit ihr zu schimpfen. Plötzlich entfährt ihm: »Die haben ja recht, die meinen es ja gut!« Da mischt sich die Kranke fast flüsternd ein: »Er hat ja auch mal von Vergasen gesprochen.« Vater: »Das soll ich gesagt haben? Das muss aber lange her sein.« Beide Töchter heftig: »Das ist gar nicht lange her. Wir können uns noch genau daran erinnern!« Der Vater verliert die Fassung und wird laut: »Und ihr wärt bei Hitler kastriert worden, und das wäre vielleicht auch gut so!« Er beugt sich zu ihnen vor und setzt hinzu: »Die Krankheit muss doch mal ausgerottet werden!«
    Die Töchter bringen kaum ein Wort hervor. DieMutter ist erstarrt. Pause. Dann wende ich mich an den Vater: »Wenn ich von einem höre, das Böse solle ausgerottet werden, dann sind das stets Menschen, die in sich selbst etwas hassen, was sie quält, was sie unbedingt beseitigen wollen. Was könnte das bei Ihnen sein?« Ich merke, dass es in ihm arbeitet. Er atmet schwer. Plötzlich verliert er die Beherrschung und muss hemmungslos weinen – minutenlang. Die Kranke legt ihre Hand auf seinen Arm. Auch den Töchtern stehen Tränen in den Augen. »Ich war ja früher auch ganz anders«, sagt der Vater, immer noch schluchzend. Da habe er alles für seine Frau und die Kinder getan. Er erzählt, wie er früher war, und verrät damit, wie er auch heute noch eigentlich sein und gesehen werden möchte. Alle sind ergriffen. Die Kranke zeigt, dass es ihr wohltut, wie er sich endlich einmal öffnen kann. Auch von mir bekommt er Ermutigendes zu hören.
    Die nächste Therapiesitzung eröffnen Mutter und Töchter mit der Feststellung, dass ihnen das Erstgespräch eine Erleichterung gebracht habe. Der Vater zögert. »Es war schon gut«, meint er, »doch habe ich das Gefühl, dass mich die Psychologie krank macht.« »Also ich als Psychotherapeut mache Sie krank?« »In gewisser Weise schon«, sagt er. »Sie machen mich schwächer, und das kann ich mir nicht leisten.« Und dann erläutert er: In seinem Beruf dürfe er nicht zeigen, wie ihm zumute sei. Da gehe es knallhart zu. Bei seinen Kunden habe er nur Erfolg, wenn er obenauf sei und ihnen Lust mache zu kaufen. Jeden Monat müssten seine Verkaufszahlen stimmen, sonst sei er sofort weg vom Fenster. Wenn er versage, sei schon ein Jüngerer da, um ihn zu ersetzen. »Aber die Anstrengung, Ihren Kummerzu verdrängen, wird man Ihnen erst recht anmerken, also wenn Sie so gereizt sind, wie zu Beginn unseres ersten Gesprächs«, werfe ich ein.
    Ich spüre, dass er mir zu vertrauen beginnt und eigentlich erwartet, dass ich seine Bedenken zwar respektiere, ihm dennoch zutraue, seiner Frau und den Töchtern nahe zu bleiben. Ich kann ihn mit einer Bescheinigung zu einer steuerlichen Erleichterung unterstützen. Es ist wichtig für ihn, dass ich nicht nur wohlmeinend rede, sondern mich auch praktisch für die Familie engagiere.
    In den folgenden Wochen nimmt die Patientin lebhafter an unseren Gesprächen teil. Obwohl die Pflegesituation laufend schwieriger wird, widerstrebt es dem Vater, sie in ein Heim zu geben. Nach drei Jahren geht er in Pension. Der Mann, der zuvor den Anblick der Kranken kaum noch ertragen konnte, behält sie bis zu ihrem Ende bei sich zu Hause, füttert und windelt sie. Sie stirbt in seinen Armen. Die Töchter helfen, soweit sie Zeit dafür finden. Später beginnt der Vater, ein Waisenhaus in einem Balkan-Staat mit Hilfslieferungen zu unterstützen, was er bis zu seinem Tod fortsetzt. Durch den Beistand für seine

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