Moral in Zeiten der Krise
Frau ist er ein anderer geworden.
Das ist nur ein willkürlich herausgegriffener Fall aus unserer Arbeit mit Chorea-Huntington -Familien. Solche Familien müssen sich nicht mehr wie einst vor »Euthanasie« fürchten. Aber das reicht nicht, um sie vor stiller Ausgrenzung zu bewahren. Die Gesellschaft muss beweisen, dass es ihr ernst damit ist, ausreichende Betreuung und Pflege auch für die ohnmächtigsten Hilfsbedürftigen aufzubieten. Selbst wo die Medizinnicht heilen kann, vermag sie immer noch anderweitig zu unterstützen. Dass familientherapeutische Kompetenz etwas auszurichten vermag, hat die kleine Fallskizze vielleicht anschaulich gemacht. Was mit solchen Hilfen erreicht werden kann, lässt sich nicht zählen und messen. Wenn eine Schwerstkranke, wie in unserem Fall, wenigstens vorübergehend noch einmal auflebt und wenn der Ehemann entdeckt, dass er wieder der Hilfreiche sein kann, der er einmal war, so ist es doch etwas. Und wir selbst in unserem psychosomatischen Team haben in den fünf Jahren unseres Projektes hohe Achtung vor denen gelernt, deren Betreuungsarbeit wir begleitet haben.
Aber eigentlich habe ich die kleine Geschichte zur Erläuterung meiner kritischen Zeitdiagnose erzählt. Ist es nicht ein Zwiespalt, den wir alle kennen? Die Sorge, ob wir in der gnadenlosen Konkurrenz Schritt halten können, wenn wir nicht fit und obenauf sind, sondern uns mitfühlend schwach zeigen? Die Versuchung zu hassen, um nicht zu leiden?
Aber dann sieht der Ehemann ein, dass genau diese Verdrängung des Mitgefühls ihn krank macht. Und dass es ihn befreit, als er in sich die versteckte Sensibilität zulässt, in der er sein wahres Wesen wiedererkennt. Das ist doch unsere heutige Situation. Nämlich uns unserer Sensibilität als moralischer Kraft wieder innezuwerden, anstatt sie aus falscher Ohnmachtsangst zu verdrängen.
Teil III – Von Ost nach West
Vom Kalten Krieg in den unkontrollierten
Kapitalismus
Nach Errichtung der Mauer dauert es eine Weile, ehe ich mit Besuchen im Osten die Möglichkeit erkunde, Beziehungen für eine
Zusammenarbeit zwischen westlicher Friedensbewegung und ostdeutschen Bürgerrechtlern anzuknüpfen. Meine Erwartungen sind nicht hoch. Wie können die im
Osten anders sein als das, was ihr System mit ihnen gemacht hat? Also bedrückt, gleichgeschaltet und verdrossen, jedenfalls eingeengt, so oder so Opfer
des Regimes der Unfreiheit. Aber ich werde rasch eines Besseren belehrt. Diejenigen, die ich für meine Besuche auswähle oder die mich einladen, sind
überwiegend ganz anderer Art: neugierig, offen, kritisch. Manche haben meine Bücher gelesen: Die Gruppe, Lernziel Solidarität, Flüchten oder
Standhalten , die im Reisegepäck die Grenzkontrollen passiert haben. Viele wissen von meiner Friedensarbeit, vom Friedensnobelpreis für unsere
Organisation. Ungehindert kann ich die jährlichen »Friedenswerkstätten« in der Ostberliner Erlöserkirche besuchen, wo sich bis zu 3000 meist junge
Menschen einfinden. Heikler sind Zusammenkünfte mit kleinen Gruppen von Regimekritikern in privaten oder kirchlichen Räumen. Wie ich später in meiner Akte
lese, wird fast jeder meiner Ostbesuche von der Stasi begleitet, die mein Gießener Telefon abhört, alle meine Verabredungen überwacht und mich bald als
gefährliche Person einschätzt. So lese ich u. a. folgende Eintragungen:
»Richter versucht durch Zusammenführung negativ feindlicher Kräfte eine oppositionelle Bewegung in der medizinischen Intelligenz der DDR zu schaffen.«
»Richter unterhält Kontakt zu negativ-feindlichen Kräften in der DDR und ist durch vielfältige Aktivitäten der Organisierung einer politisch-oppositionellen Bewegung in der DDR aufgefallen.«
Nur einmal arretiert man mich nach einer Rede vor Bürgerrechtlern in einer Krankenhauskapelle. Als man das Manuskript meiner Rede nicht findet, lässt man mich nach einer Stunde wieder frei. Dass man mir nichts Schlimmeres antut, verdanke ich wohl meinem Kontakt zu Willy Brandt, meiner Rolle in der internationalen ärztlichen Friedensbewegung und meiner Mitwirkung in der von Gorbatschow betreuten IFSDH (International Foundation for the Survival and the Development of Humanity).
Der Kalte Krieg schläft im Verlauf der achtziger Jahre ein. Freiheitsbewegungen in den Oststaaten brechen die Macht der stalinistischen Regime. Einzig die SED --Oberen in der DDR stemmen sich noch lange gegen den unabwendbaren Wandel. Doch sie stehen vor dem Bankrott. Die
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