Moral in Zeiten der Krise
Verkümmern der großen menschlichen Kraft des Mitfühlens, der sozialen Sensibilität. Schopenhauer nannte das Mitleid als Fundament von Gerechtigkeit und Menschenliebe.
Als Psychoanalytiker habe ich mich gelegentlich an Adam Smith erinnert, wenn Patienten sich unbewusst mit Symptomen dafür bestraften, dass sie aus beruflichem Anpassungsdruck ihrem Gewissen zuwiderhandelten. Sie wirkten z. B. bei kommerziell erfolgreichen Geschäften mit, die sie insgeheim als verwerflich empfanden. Erkannten sie ihre Selbstverleugnung als Krankheitsursache, fanden manche nun einen Weg, ihr Inneres mit ihrem Tun wieder in Einklang zu bringen. Ihre Symptome verschwanden. Ihre psychische Korruption erwies sich somit als heilbar. Das ist eine prinzipiell wichtige Erkenntnis. Sie beweist: Es hat sich nicht die Natur der Menschen verändert. Sondern die Menschen haben widernatürliche gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen,die sie in Form von psychischer Korruption krank machen – und zwar in einem Grade, der sie blind macht für ihre aktuelle und ihre langfristige Selbstgefährdung.
Zwei Grenzgänger und ihre Fragen nach der
Bedeutung der Religion in der Gegenwart
Der Schriftsteller Stefan Heym, zehn Jahre älter als ich, lebt in Ostberlin. Noch vor dem Mauerfall treffen wir uns auf der von evangelischen Jugendpfarrern organisierten sogenannten »Friedenswerkstatt« im Gebäude der Ostberliner Erlöserkirche. Beide werden wir, ohne es zu bemerken, von Stasi-Spitzeln begleitet. Beide kommen wir zu Wort und kritisieren die atomare Bedrohung und die Irrationalität der Abschreckungsphilosophie. Um uns herum mehrere hundert überwiegend junge Leute, die Friedenslieder singen und in Gruppen diskutieren.
Stefan und ich stellen bald fest, dass wir einander geistig und politisch näher sind, als unsere Biographien vermuten lassen würden. Er wuchs in Chemnitz auf und schrieb schon als Achtzehnjähriger antimilitärische Gedichte. 1933 floh er nach Prag, wo er als Journalist für deutschsprachige Zeitungen arbeitete. Nach den USA übergesiedelt, nahm er als Soldat an der Normandie-Invasion teil. Zurück in den USA schreibt er englischsprachige Romane, bis er als kritischer Linker ins Visier der McCarthy-Kampagne gerät. Dieser entgeht er durch Rückkehr nach Ostberlin. Hier wird er als demokratischer Sozialist erneut zur persona ingrata . 1978 schließt man ihn aus dem DDR -Schriftstellerverband aus. Seine systemkritischen Romane 5 Tage im Juni und Collin kann er nur in Westdeutschland publizieren. Dort wiederum gilt er, obwohl niemals Mitglied der KP , dennoch als Kommunist.
Dem in Ostberlin wohnenden Ehepaar Heym ist die Stasi unentwegt auf den Fersen, bis ihr ein denkwürdigerFehler unterläuft. Zwei Bewacher lassen einen Batzen Überwachungsprotokolle vor Stefans Ostberliner Haus im Schnee liegen, offenbar ein Versehen bei der Wachablösung. Stefan stellt die SED -Führung vor die Wahl: Entweder ich erhalte sofortige Reisefreiheit, oder ihr bekommt einen internationalen Skandal. Der Staat lenkt ein. Und der Gestaltung einer Freundschaft zwischen den Ehepaaren Heym und Richter über 20 Jahre bis zum Tode Stefans 2001 steht nichts mehr im Wege.
Wir Männer reden zusammen auf Friedensveranstaltungen. Beide wandeln wir noch kurz vor dem Mauerfall am Rande unserer jeweiligen Gesellschaften – der immer noch stalinistisch gefärbten der eine, der von kapitalistischen Egoismen dominierten der andere, beide in einem unbedingt einig: Der echte Frieden lässt sich nicht herbeiorganisieren, wenn es nicht zu einer neuen Kultur der Humanität kommt. Der Sozialismus mit staatlicher Entmündigungsgewalt hat ausgespielt. Reicht der Verantwortungssinn in einer freiheitlichen Demokratie zum Aufbau eines gerechten Wirtschaftssystems und einer sozialen Gesellschaft?
Juni 1987 werden wir beide als »Zeitzeugen« zum Evangelischen Kirchentag eingeladen. Gerhard Rein führt mit uns ein Gespräch über »Gott, die Wirklichkeit und die Deutschen«. Ich finde, er hat aus uns beiden mehr herausgeholt, als wir üblicherweise verraten. Was steckt in uns beiden an religiösen Vorstellungen? Einige Passagen erscheinen mir immer noch aktuell.
Rein fragt Heym: Herr Richter hat davon gesprochen, daß Sie als Jude emigriert sind. Was für
ein Jude sindSie? Dies ist keine Bekenntnisstunde. Aber ich möchte natürlich wissen, was es bedeutet, als Jude nun in der DDR zu leben, und was es für Sie als Jude bedeutet, als Jude über Gott nachzudenken. Haben Sie da
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