Moral in Zeiten der Krise
Bürgerbewegung geht mutig auf die Straße. Die Tage der Mauer sind gezählt.
Es ist, als hätte der westliche Kapitalismus auf den Kollaps im Osten nur gewartet, um sich von lästigen Skrupeln zu befreien. Die Korruption blüht auf. Bestechungs- und Parteigeldskandale überschwemmen die Medien. In der Wertedebatte steht nur noch der Erfolg hoch oben. Egoistische Rücksichtslosigkeit wird zu vitaler Robustheit. Im Manager-Magazin meldet sich ein Psychologieprofessor aus Augsburg und verkündet: Zu Unrecht seien Intrigen, Günstlingswirtschaft, materielle und psychische Korruption bislang tabuisiert und wie Krankheiten behandelt worden. »Ich vertrete einengegenteiligen Standpunkt.« »Es ist Zeichen einer vitalen und potenten Organisation, wenn sich die genannten Anzeichen finden.« Der Professor glaubt sogar, in der Psychoanalyse eine Bundesgenossin zu erkennen. Denn auch sie zeichne neuerdings das Bild einer neuen betrieblichen Wirklichkeit.
Das sollte so nicht stehenbleiben, denke ich. Angespornt von der internationalen Resonanz auf Alle redeten vom Frieden versuche ich es erneut mit einer paradoxen Intervention in der Form einer Satire. Ich gebe mich als Berater für Führungspersonal in Politik und Wirtschaft aus, das ich in allen Tricks professioneller Korruption und Vertuschungstechnik trainiere. Erfolgreich regieren, ohne gekonnt zu korrumpieren, damit sei es vorbei. Unentbehrlich sei aber, das einfache Volk auf Zucht und Ordnung zu drillen und schon bei Bagatellverfehlungen gnadenlos zu belangen, weil die Massen sonst nicht mehr beherrschbar seien. Bald erscheint Die hohe Kunst der Korruption auf vorderen Plätzen der Bestsellerlisten. Doch eines Tages sind die Käufer plötzlich weg: Gerade ist die Mauer gefallen. Hinter ihr enthüllt sich das ganze Elend der DDR . Armseligkeit, wohin man schaut. Wen interessiert da noch im Westen, was auf der eigenen Seite getrickst, geschummelt oder unter den Teppich gekehrt wird?
Der Verlust des Wertebewusstseins
Aber nur wenige Jahre werden vergehen, bis sich der Werteverfall im Westen als wesentliche Mitursache für den Absturz in gefährliche Krisen erweisen wird. Die anwachsende Klimagefahr kommt nicht von ungefähr, sondern von einer über 30 Jahre völlig ungenügenden Vorsorge. Und in der Bankenkrise rächt sich die Verwilderung einer ganzen Branche, die auf leisen Sohlen die gesellschaftliche Ordnung untergraben hat. Sie hat sich auf den Finanzmärkten Schlupflöcher für windige Geldgeschäfte geschaffen, deren Risiken sich als verhängnisvoll herausstellen. Ein verantwortungsloses Spekulantentum hat selbst auf die staatlichen Landesbanken übergegriffen. Ein Schuldendesaster ohnegleichen tut sich auf. Nun sollten doch Verantwortliche zu finden und zu belangen sein. Aber, oh Wunder, kaum einer kommt vor Gericht. Denn alle haben nur gemacht, was sie durften. Sie haben keine Gesetze gebrochen, weil keine da waren.
Aber warum waren keine da? Aus Versehen, hieß es. Doch es war keine Panne, vielmehr Ausdruck einer uneingestandenen allgemeinen Verantwortungslosigkeit. Wie aber ist diese zustande gekommen? Offenbar durch einen Verlust an Wertebewusstsein. Erinnert man sich an Adam Smith, den Erfinder der liberalen Marktwirtschaft vor zweieinhalb Jahrhunderten, so versteht man, was uns offenbar verloren gegangen ist. Denn er setzte voraus, dass wir von Natur aus über eine Anlage zum Mitfühlen und zu Gerechtigkeit verfügen, die uns alle Zeit davor bewahren werde, eine Freiheit des Marktes zu egoistischer Willkür zu missbrauchen. Diese Gefühlsausstattung beschrieb Smith in einem Werk über600 Seiten aufs Ausführlichste. Die Moral Sentiments wurden ein großer internationaler Erfolg – ein indirekter Beweis dafür, dass Smith keinem realitätsfernen Idealismus verfiel, sondern den Geist seiner Zeit traf. So erntete er auch die volle Zustimmung seines älteren Freundes David Hume, der lehrte, ein Gemeinwesen werde mehr durch gemeinsame Gefühle – er sprach von Sympathie – als durch Verträge zusammengehalten.
Wie auch immer ist die Bindungskraft dieser ethischen Gefühle geschrumpft. Egoistische Rücksichtslosigkeit hat zugenommen. Bloß ein Ärgernis, oder vielleicht doch eine krankhafte Störung? Carl Friedrich von Weizsäcker nennt, wie geschildert, Friedlosigkeit eine seelische Krankheit. Sie entstehe durch Verkümmern der großen menschlichen Kraft der Friedfertigkeit. So kann man doch auch psychische Korruption als Krankheit erklären, nämlich als
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